Und das wars jetzt? Ich bin ein bisschen enttäuscht, wenn ich mir so anschaue, was übrig ist von der ehemaligen innerdeutschen Grenze zwischen Maroldsweisach und Hellingen. Ich, Jahrgang 1996, kenne das geteilte Deutschland nur aus Erzählungen und dem Geschichtsunterricht. Der Grenzverlauf ist in meiner Wahrnehmung irgendwo weit im Norden, tatsächlich sind es mit dem Auto nur 18 Kilometer von meinem Heimatort Goßmannsdorf.
Mitten im Wald liegt sie, die ehemalige Grenze zwischen BRD und DDR. Wären da nicht die große Infotafel, ein Gedenkstein und Google Maps, wäre ich – Praktikantin in der Redaktion der Heimatzeitung – auf meiner Spurensuche wohl am Grenzübergang vorbeigefahren. So heißt es erst mal parken und dann vor allem lesen.
„Hier waren Deutschland und Europa bis zum 2. Dezember 1989 um 14 Uhr geteilt,“ teilt uns das Schild am Straßenrand mit, ein Denkmal erinnert an die Wiedervereinigung, Infotafeln berichten vom Leben an der Grenze und bewerben den Grenzwanderweg. Wirklich zu sehen ist hingegen wenig. Geschichte zum Anfassen? Fehlanzeige.
Die eingewachsenen Betonplatten des Kolonnenwegs sind das einzige Überbleibsel aus DDR-Zeiten. Wenig spektakulär und viel zu friedlich wirkt die Kulisse, als dass hier über 28 Jahre lang eine Grenzanlage Freunde und Verwandte gewaltsam trennte. Mitten in der Natur und bei schönstem Sonnenschein ist das für mich kaum vorstellbar.
Ich fahre weiter in der Hoffnung, dass es am Grenzübergang zwischen Ermershausen und Schweickershausen mehr zu sehen gibt. Und tatsächlich – neben einem Gedenkstein, Infotafeln und dem Kolonnenweg, der auch hier entlang führt, finde ich – ein wenig eingewachsen – Stücke des alten Grenzzauns. Stabil und über drei Meter hoch ragen die scharfkantigen Metallgitter aus dem Boden. Selbst über 25 Jahre Vernachlässigung konnten dem Zaun kaum etwas anhaben. Bedrohlich wirkt er immer noch.
Wer hier einen Fluchtversuch gewagt hat, musste eine Sehnsucht nach Freiheit verspürt haben, die größer war als jede Angst geschnappt und im schlimmsten Falle getötet zu werden. Das wird mir beim Anblick des scheinbar unüberwindbaren Grenzzauns klar. Hier sind die Verzweiflung der Flüchtigen, aber auch ihre Hoffnung auf ein besseres Leben im Westen gleichermaßen noch ein Stück weit spürbar.
Nun wage ich mich doch über die Grenze nach Thüringen. Für mich das erste Mal in dem Bewusstsein, dass ich nun das Gebiet der ehemaligen DDR betrete. Ein seltsames Gefühl, dass es noch für meine Eltern in meinem Alter unmöglich gewesen war, einfach mal so „rüber“ zu fahren. Als erstes fallen mir die schmalen, kurvigen Straßen auf. Kommt mir ein Lastwagen oder ein landwirtschaftliches Fahrzeug entgegen, kommen mir die Räder jedes Mal für meinen Geschmack etwas zu nahe.
Darüber hinaus finde ich kaum Hinweise für den einstigen sozialistischen Staat. Lediglich die riesigen Felder, die sich links und rechts der Straßen erstrecken, erinnern noch an die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften, denen sich die Bauern unter dem DDR-Regime im Zuge der Zwangskollektivierung anschließen mussten.
Auf die bisher noch am umfangreichsten erhaltene Grenzanlage unserer Rundfahrt stoße ich rein zufällig. Eigentlich bin ich auf dem Weg zum Bayernturm, um einen Blick von oben auf die ehemalige Sperrzone zu werfen, aber die ehemalige Grenze zwischen Rieth und Zimmerau ist einen Zwischenstopp wert. An dieser Stelle sind nicht nur große Teile des Zauns erhalten, auch die gesicherten Tore und eine DDR-Grenzsäule stehen noch.
Stacheldraht und Metallgitter erinnern an ein Gefängnis. Die düstere Atmosphäre der ehemaligen Grenzsperranlage hängt noch zwischen den Überbleibseln aus DDR-Zeiten. Zusammen mit den Schilderungen meines Vaters, der mit Unbehagen an Verwandtenbesuche im Osten zurückdenkt, wird das Bild eines Grenzübertritts zur damaligen Zeit hier lebendig. Auch ohne Wachkommandos und Beobachtungstürme, kann ich mir hier vorstellen, wie beklemmend die Prozedur gerade für ein Kind gewesen sein muss.
Genauso in Gompertshausen, meiner letzten Station. Der Grenzturm am Ortsrand, der seit 2004 zur Erlebnisstraße der deutschen Einheit gehört, ist bereits von weitem zu erkennen. Groß und grau streckt sich das historische Gebäude in den Himmel, blickt wie ein Symbol des Überwachungsstaates auf das umliegende Gelände herunter. Ein Eindruck, den kein Geschichtsbuch so vermitteln kann wie die Besichtigung des Schauplatzes vor Ort.
Mindestens genauso lebendig wird für mich die Vergangenheit durch die Erzählungen meiner Eltern und Großeltern. Auf meiner Spurensuche konnte ich ihre Geschichten ein Stück weit nachvollziehen. Sei es ihre Angst als Kind während des Grenzübertritts oder das mulmige Gefühl, nur an der Grenze entlang fahren zu müssen.
Gerade als junger Mensch, der die Teilung Deutschlands nicht mehr miterlebt hat, nimmt man die Einheit und die Demokratie an sich wohl oft viel zu selbstverständlich. Erst im Angesicht der historischen Stätten und wenn Zeitzeugen so lebendig ihre Erinnerungen schilderten, als wäre es erst gestern gewesen, wird mir bewusst, wie viel Glück wir haben, heute in einem friedlich vereinten Deutschland leben zu dürfen. Stacheldraht und Grenztürme zeigen anschaulich, dass die Geschichte auch anders hätte ausgehen können.
Trotzdem bin ich froh, dass sich heute noch Reste der DDR entlang der Grenzen finden lassen. Vielleicht fällt es uns dadurch leichter, Deutschland, wie es heute ist, schätzen zu lernen. Denn war die Teilung Deutschlands auch eine schreckliche Geschichte, war sie doch immerhin eine mit Happy End.