
Einer seiner Freunde nannte es die ultimative Herausforderung, die meisten aus seiner Verwandtschaft und dem Bekanntenkreis aber schüttelten nur mit dem Kopf, weil sie die Sache für eine ausgesprochene Schnapsidee hielten: Mitten im Winter durch Polen, Weißrussland, Litauen und Lettland – mit dem Fahrrad! Jetzt ist der 59-jährige Radfreak Manfred Wagner aus Holzhausen ohne Kälteschaden von seiner Tour zurückgekommen.
Vorab: Eine richtige Wintertour mit Minusgraden im zweistelligen Bereich wurde es nicht. Von einigen sonnigen und frühlingshaften Tagen abgesehen, war es meistens nasskalt mit Temperaturen um den Gefrierpunkt. Insofern hätte sich der Extremradler die beheizbaren Schuhsohlen und Handschuhe sowie ein ganzes Arsenal an Hals-, Nasen- und Ohrenschützern sparen können – aber hinterher ist man immer schlauer.
Da das Straßennetz nicht gut ausgebaut ist, radelte er über Hunderte von Kilometern auf der Autobahn. Das stört in Weißrussland und im Baltikum niemand, immer wieder begegnet man auch einheimischen Radfahrern, Traktoristen mit Anhängern oder gar Pferdefuhrwerken. Als EU-Mitgliedsländer sind Polen und die baltischen Länder vielen Menschen hierzulande leidlich bekannt. Ganz anders sieht das bei Weißrussland aus. Kaum ein Tourist verirrt sich in diesen Staat, der seit über zwei Jahrzehnten von einem Herrscher namens Lukaschenko mit diktatorischen Machtbefugnissen regiert wird.
Bei der Einreise nach Weißrussland wird Wagner zum Millionär – was nicht verwundert, wenn man weiß, dass man für einen Euro rund 17 000 weißrussische Rubel bekommt. Sprachlich kommt ihm sein „Survival-Russisch“ zugute, das er sich bei früheren Russland-Touren angeeignet hat. Über das Internetportal „Couchserving“ knüpft der Weltenbummler einen Kontakt zu der 41-jährigen Weißrussin Sveta, die fließend deutsch spricht, weil sie in Jena studiert hat.
Sie zeigt ihm in der Hauptstadt Minsk die Sehenswürdigkeiten. Dazu zählt der Palast der Republik, wo Kanzlerin Merkel kürzlich das Friedensabkommen zur Ukraine mit aushandelte. Da Minsk im Zweiten Weltkrieg zu 90 Prozent zerstört war, gibt es nur wenig historische Bausubstanz. Die Straßenzüge sind vom klotzigen sozialistischen Stil geprägt.
Auf die aktuelle Situation eingehend, spricht die gebildete Frau von einem „Wurstkrieg“ mit Russland. Damit meint sie Folgendes: Als Reaktion auf die Wirtschaftssanktionen des Westens hat Russland die Einfuhr von Lebensmitteln aus der EU gestoppt. Findige weißrussische Geschäftemacher wenden nun einen illegalen Trick an – sie etikettieren viele EU-Waren einfach um. Und so werden aus dänischen Muscheln weißrussische Muscheln, die schließlich in Moskauer Feinkostläden landen.
Symbol für Weißrussland sind übrigens die Weißstörche. Überfall auf dem Land sieht man auf Telefonmasten oder Hausgiebeln die großen Nester. Im Winter allerdings ist Meister Adebar Richtung Süden ausgeflogen. Wer die Störche bewundern will, wie sie klappernd miteinander balzen, sollte also lieber im Frühling oder Sommer kommen.