Die Heiligen Länder in den Haßbergen sind vielen von uns ein Begriff und auch Freizeitradler trifft man hier zuweilen. Im klassischen Heiligen Land in Palästina dagegen sieht man schwer bepackte Fernradler eher selten. Die "Reise nach Jerusalem" auf dem Rad darf man als außergewöhnlich bezeichnen. Gerade noch vor dem Reisestopp durch die Corona-Krise kurvten Inge und Manfred Wagner (beide 64) aus dem Königsberger Stadtteil Holzhausen mit ihren Drahteseln durch Judäa, Samaria und Galiläa. Die beiden berichten von interessanten Begegnungen mit gastfreundlichen Menschen und von beeindruckenden religiös geprägten Gedenkstätten, aber auch von beklemmenden Gefühlen angesichts hoher Mauern und kilometerlanger Stacheldrahtzäune, die entlang der palästinensischen Gebiete aufgebaut sind.
"Ich war ein kleines Mädchen, als ich an der Hand meiner Mutter 1938 hierher kam", erzählt ihnen eine betagte Dame. Sie deutet auf einen älteren Herrn und fährt lächelnd fort: "Hier habe ich meinen Mann gefunden, wir haben im letzten Jahr unsere Diamantene Hochzeit gefeiert." Als die Radler einen Zeltplatz suchten, wurden sie von den älteren Herrschaften eingeladen, bei ihnen zu übernachten. Beim gemeinsamen Abendessen berichtet die Dame des Hauses, dass die meisten Familienmitglieder ihres Onkels, der in Nazi-Deutschland geblieben war, in einem Konzentrationslager umgebracht wurden. Sorgen machen sich die beiden angesichts der aktuellen Situation in Israel. "Gottseidank haben wir Friedensverträge mit Jordanien und Ägypten", sagt der Mann, "aber die Situation mit den Palästinensern ist sehr angespannt."
Das Ehepaar führt die Königsberger zu einem Anbau, der vor wenigen Jahren fertiggestellt wurde. Dort ist ein kleiner Raum mit einer Stahltür gesichert. Der Schutzraum hält sogar Bombeneinschläge aus. "Das war eine Auflage im Genehmigungsbescheid für den Erweiterungsbau", erzählen sie. Immer, wenn wegen anfliegender Raketen die Sirenen heulen, müssen alle in diesen Raum gehen, bis Entwarnung gegeben wird.
Dass es in der Region erhebliche Spannungen gibt, sehen die Franken bei ihrer Weiterfahrt Richtung Jerusalem. Bei den Ausfahrten, die in palästinensische Städte und Dörfer führen, stehen große rote Schilder. Auf Englisch und Hebräisch wird israelischen Staatsbürgern verboten, in diese Gebiete zu fahren. Zumeist sind Schranken aufgebaut, wo Uniformierte den Durchgangsverkehr kontrollieren.
Nach steilen und langen Anstiegen erreichen die Fernradler Jerusalem. Dort besichtigen sie die berühmten Sehenswürdigkeiten. Während sich in der Kreuzigungskirche, die über dem Golgota-Hügel errichtet wurde, christliche Besucher drängen, stehen an der Klagemauer – dem letzten Rest des historischen Tempels – die jüdischen Gläubigen. Mit seiner markanten goldenen Kuppel besticht der Felsendom, eines der Hauptheiligtümer des Islam. Schließlich besuchen die Wagners die zentrale Gedenkstätte Yad Vashem, die an die nationalsozialistische Judenvernichtung erinnert. Höchst beeindruckt sind sie von der sogenannten "Allee der Gerechten unter den Völkern". Hier stehen Bäume für die "Gerechten", die sich dem NS-Regime widersetzten, um Juden zu retten. Ein bekanntes Beispiel dafür ist Oskar Schindler.
Über Bethlehem mit seiner Geburtskirche führt die Radtour durch die Negev-Wüste zum Toten Meer. Dessen Ufer liegt unglaubliche 420 m unter dem Meeresspiegel. Ein Bad darf da nicht fehlen, denn auf dem stark salzhaltigen Wasser kann man entspannt liegen und in aller Ruhe ein Buch lesen. Nächste Station ist die historische Bergfestung Masada, wo jüdische Rebellen mit ihren Familien beim Aufstand gegen die Römer im Jahr 73 n. Chr. jahrelang Widerstand leisteten. Um der Versklavung zu entgehen, begingen fast 1000 Juden kurz vor der Eroberung Massenselbstmord. Masada wurde zum Symbol für den unbeugsamen Selbstbehauptungswillen des jüdischen Volkes.
Als die Radler im Westjordanland neben einem primitiven Unterstand abends ihr Zelt aufstellen, begegnen sie drei palästinensischen Feldarbeitern. Mit ihnen trinken sie Tee und teilen das Abendessen. Als dann der Muezzin in der nahen dörflichen Moschee zum Gebet ruft, waschen sich die Moslems an einer Wassertonne die Füße und breiten ihre Jacken mit der Außenseite auf die blanke Erde. Darauf knien sie, beugen tief den Rücken und murmeln ihren Sprechgesang: "Allahu Akbar, Allahu Akbar”. Es scheint, dass sie die Anwesenheit der Deutschen vergessen haben, so sehr sind sie in ihr Gebet versunken und eins mit ihrem Gott. Das Ritual ist etwas Besonderes und doch etwas Alltägliches, etwas Intimes und doch etwas Öffentliches, es entzieht sich auf seltsame Art der Zu- bzw. Einordnung. Obwohl oder vielleicht gerade weil die Zeremonie absolut schlicht ist, ist sie in höchstem Maße ergreifend und spirituell.
Entlang des Jordan gelangen die Wagners zum See Genezareth, wo Jesus seine ersten Jünger berief, zahlreiche Wunder wie die Brotvermehrung vollführte und seine wichtigste Rede, die Bergpredigt hielt. Unbehelligt überqueren sie kurz danach die Grenze zu Jordanien. Eigentlich hatten die Königsberger geplant, weiter über die Sinai-Halbinsel bis zur ägyptischen Hauptstadt Kairo zu fahren. Die Corona-Krise machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. Weil sich die Situation in der Heimat dramatisch zuspitzte, flogen die beiden vorzeitig von Jordaniens Hauptstadt Amman aus zurück. Ihre abgebrochene Reise wollen sie zu einem späteren Zeitpunkt fortsetzen. Ihre Zuversicht ist ungebrochen und Manfred Wagner zitiert Hölderlin: "Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch". Und seine Frau ergänzt: "Aufgeschoben ist nicht aufgehoben."