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Bamberg
Egal ob Plastik oder nicht: Die Vergangenheit steckt in der Tüte
Prestigeobjekte: edle Papiertüten.
Foto: Marion Krüger-Hundrup | Prestigeobjekte: edle Papiertüten.
Bearbeitet von Marion Krüger-Hundrup
 |  aktualisiert: 29.03.2021 10:33 Uhr

Doch, doch: Regina Hanemann ist trotz ihres Jobs als Hüterin der Vergangenheit auf der Höhe der Zeit. „Ich benutze schon lange keine Plastiktüten mehr aus ökologischen Gründen“, erklärt die Direktorin des Historischen Museums Bamberg. Fast verlegen räumt sie jedoch ein, dass sie aber noch ein „vergammeltes Exemplar“ – O-Ton Hanemann – in Gebrauch hat. Die promovierte Kunsthistorikerin kramt tatsächlich eine schlicht grau-weiße, große Plastiktüte hervor: „Wenn ich bei Regen mit dem Fahrrad unterwegs bin, wickle ich meine Aktentasche darin ein“, erzählt sie freimütig über dieses wasserdichte Stück.

Und sprudelt gleich weiter, dass sie eigentlich immer gern auf Plastiktüten geschaut habe: „ein interessantes Medium“, meint Regina Hanemann und ist sichtlich froh, dass zwei Privatsammlerinnen von solchen Zivilisationszeugnissen etliche für die neue Sonderausstellung im Historischen Museum zur Verfügung gestellt haben. „Wir haben jetzt nicht die ultimative Plastiktütenausstellung“, lacht Hanemann auf, und verweist auf eine weitere Sammlerin im Ruhrgebiet, die gleich 200 000 Tüten ihr Eigen nennt.

200 Exponate

Doch die Bamberger Präsentation auf 700 Quadratmetern hat es trotzdem in sich. Kuratorin Johanna Blume hat etwa 200 Tüten und Taschen aus verschiedenen Materialien wie Papier, Plastik, Bioplastik und Baumwolle ausgewählt und arrangiert. Allesamt Objekte, die Kulturgeschichte erzählen und damit durchaus in ein Museum passen, das sich selbst als historisch bezeichnet. „Tüte um Tüte“, wie diese Sonderausstellung titelt, Schauraum um Schauraum, Vitrine um Vitrine, Marstallbox um Box wird der Facettenreichtum dieses Sujets deutlich.

Papiertüten aus Buchseiten

Zumal der Mensch schon seit er sesshaft wurde, Tüten aus pflanzlichen Materialien und Tierhäuten herstellte. Aus Papier gibt es sie in Europa erst seit dem 14. Jahrhundert. Vor allem Fernhändler, Krämer und Apotheker benötigten Tüten für kleinteilige Waren wie Gewürze, Medikamente oder Tabak. Bestanden diese Tüten zunächst aus alten Buchseiten, war es ab etwa 1850 möglich, Tüten aus frisch geschöpftem Papier maschinell herzustellen. Zusammengeklebt wurden sie in Gefängnissen und Zuchthäusern.

Einkauf wuchs mit den Tüten

Ab den 1920er Jahren boten Geschäfte stabile Papiertaschen mit Tragebändern an. Plastiktüten gab es erst einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland, die ersten Anfang der 1960er Jahre in der Lebensmittelabteilung des Kaufhauses Horten in Neuss. So weiß jedenfalls Kuratorin Johanna Blume zu berichten: „Die Wirtschaftlichkeit der Tüte war entdeckt, ihre Form hat sich stetig verändert.“ Die Plastiktüten revolutionierten das Einkaufen und steigerten den Umsatz immens. Auch Museumschefin Hanemann hat ein Beispiel parat: „Je größer die Tüten zum Beispiel von Aldi und Lidl wurden, desto mehr Waren wurden eingekauft“. Und zwar unabhängig davon, dass Discountertüten mit ihren einfachen Mustern und leuchtenden Farben für billige Produkte und geringes gesellschaftliches Ansehen stehen.

Tatsächlich kombinierte die Ausstellungsmacherin solche Tüten mit Fotos von Obdachlosen, die ihr Hab und Gut oft in diesen reißfesten, großen Plastiktüten verstauen. Das unästhetische Image dieser wandelnden Kleiderschränke korrespondiert ironischerweise mit den edlen Papiertüten namhafter internationaler Firmen wie "Gucci" in den Vitrinen. „Prestigeobjekte“ sagt Regina Hanemann zu diesen lackierten und mit schönen Bändern aufwendig gestalteten Tragetaschen, die ihre Besitzer als Mitglieder eines gesellschaftlich angesehenen Milieus ausweisen: „Sie lassen erahnen, wie viel Geld er oder sie für die Produkte darin ausgegeben hat.“

Kulturgeschichte trifft Plastikmüll: Museumschefin Regina Hanemann schultert den gelben Sack.
Foto: Marion Krüger-Hundrup | Kulturgeschichte trifft Plastikmüll: Museumschefin Regina Hanemann schultert den gelben Sack.

Eigene Bamberger Abteilung

Eine eigene Abteilung ist Bamberger Geschäften gewidmet, die nicht mehr existieren. Nur ihre Tüten haben die Zeitläufe überdauert. Mitmachstationen wie „Plastik aus einem imaginären Meer angeln“ oder eigene werbewirksame Motive für Tüten malen, laden Kinder und jung Gebliebene zum Verweilen ein. Zwischen all den Tüten um Tüten von Museen, Verlagen, Modegeschäften, Filmverleihern, Buchhandlungen, Genusswaren. Verblüffend faszinierende Werke fantasievoller Erschaffer, die ins Auge fallen.

„Wir stellen Plastiktüten nicht nur als Schönheiten aus, wollen das Müll-Thema aber auch nicht komplett reiten“, verbindet Regina Hanemann den Museumsauftrag mit Ökologie auf besondere Weise. Denn selbst wenn Plastiktüten durchaus als Kultur- und Kunstobjekte betrachtet werden können, bleibt die Umwelt von ihnen belastet. Bevor Plastiktüten in winzige Partikel zerfallen, benötigen sie mehrere Jahrzehnte. Zusammen mit Mikroplastik vom Autoreifenabrieb, aus Textilien, Kosmetika, Reinigungsmitteln reichern sich diese Bestandteile in Flüssen, den Meeren, dem Boden und der Atmosphäre an. Obwohl sie inzwischen kostenpflichtig ist, lag der Pro-Kopf-Verbrauch in Deutschland im Jahr 2018 immer noch bei 24 Tüten, das sind um die zwei Milliarden Stück à 47 000 Tonnen des Kunststoffs Polyethylen.

Verheerende Ökobilanz

Mit Bild- und Texttafeln gibt die Ausstellung einen eindrücklichen Einblick in verheerende Ökobilanzen: „Wir wollen den Blick weiten und mit der Ausstellung zum Nachdenken anregen“, sagen Regina Hanemann und Geoökologin Anne Schmitt einmütig. Schmitt ist Geschäftsführerin des Vereins „Flussparadies Franken“, der als Kooperationspartner vom Historischen Museums mit „in die Tüte“ geholt wurde.

Wozu wird Plastik gebraucht? Wie kann darauf verzichtet werden? Wie kann die Plastikflut beherrscht werden? Regina Hanemann schultert kurzerhand einen prall gefüllten gelben Sack als ein ergänzendes Vehikel zur Findung von Antworten. Die es noch nicht gibt. Hanemann, die ihr Museum für schillernde Tüten-Mythen geöffnet hat, trifft ins grüne Herz. „Beim Machen unserer Ausstellung ist uns bewusst geworden, dass wir damit immer aktueller werden.“ Dass eben „Tüte um Tüte“ Zeitgeschichte aufleuchtet, die weit in die Zukunft reicht.

Tüte um Tüte

Die Ausstellung „Tüte um Tüte“ ist im Historischen Museum Bamberg, Alte Hofhaltung, Domplatz 7, bis ins Jahr 2021 zu sehen. Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag und feiertags von 10 bis 17 Uhr. Aktuelles auch zum Begleitprogramm unter: www.museum.bamberg.de
Die Tüten revolutionierten das Einkaufen und steigerten den Umsatz immens. Zwar wurden bereits im Zuge der Ölkrise 1973 Slogans wie „Jute statt Plastik“ geprägt. Doch die Plastiktüte wird bis heute in Massenproduktion hergestellt. Und inzwischen im Blick auf die plastikverseuchte Umwelt als Ärgernis in einigen Ländern verboten.
 
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