Eine gemütliche Stube am Ortsrand von Eichelsdorf. Weißer Rauch schlängelt sich durch den Raum, bildet mal bauschige Wolken, mal lange Fäden. Es riecht nach Nelke, nach Lavendel und Rose. An der Quelle des Rauchs, einer Holzkohle-Tablette auf einem Stövchen, machen sich zarte Hände zu schaffen. Renate Hau, Kräuterpädagogin aus Zeil, zerbröselt getrocknete Kamillenblüten über der glimmenden Kohle. Als die Hitze an den Blütenknöpfen zu nagen beginnt, steigt ein Duft auf, der an Blumenwiesen und Lagerfeuer erinnert. An Sommer und Wärme.
Renate Hau fächelt den Rauch mit einer Taubenfeder auf. Holt tief Luft. Richtet einen zufriedenen Blick auf die braun-schwarzen Bröckelchen, die von den Blüten übrig geblieben sind. Um sie herum eine kleine Schar von Frauen, die schon die Nasen spitzen und gespannt darauf warten, welches Kraut als Nächstes auf die heiße Kohle kommt.
Was Renate Hau in trauter Runde vorführt, ist etwas, das vielerorts in Vergessenheit geraten ist. Ein uralter Brauch, den Familien schon vor Jahrhunderten rund um Neujahr pflegten. Mit dem Räuchern von Kräutern wollten sie nicht nur böse Geister vertreiben, sondern auch die Luft im Haus von schlechten Gerüchen und Krankheitskeimen befreien.
Mit bösen Geistern hat die Kräuterpädagogin aus Zeil zwar nichts am Hut. An die positive Wirkung der Heilpflanzen auf Körper und Seele glaubt sie jedoch fest. Das Kräuter-Räuchern gehört für sie zum neuen Jahr genauso dazu wie für andere das Silvester-Feuerwerk. Nur dass man das Räuchern eben auch nach der Silvesternacht noch praktiziert. Besonders in den sogenannten Raunächten, den Nächten zwischen Heiligabend und Dreikönig.
Auf einer roten Tischdecke vor Renate Hau liegen getrocknete Mistelzweige, Wacholderbeeren und Lorbeerblätter. Ringelblumen, Schafgarben und Steinklee. Die meisten der Kräuter hat sie selbst gesammelt. Aus ihnen stellt sie nicht nur Tinkturen, Salben oder Tee her. Einmal im Jahr – eben zum Jahresbeginn – räuchert die 56-Jährige ihre Schätze auch. Mal geht sie dabei durch das ganze Haus, mal bleibt sie in einem Zimmer. So wie diesmal. Der Rauch findet durch die geöffnete Tür seinen Weg in die Nachbarräume.
Auf dem Stück Kohle, durch das noch immer winzige Funken sprühen, liegen Gewürznelken. Während die Frau mit den kurzen dunklen Haaren den Duft mit der Feder im Raum verteilt, liest sie aus einem Kräuterbuch vor. Die Nelke stehe für das Erkennen von Anfang und Ende, heißt es da. Und dafür, dass man mit Schwung ins neue Jahr startet. Heitere Zustimmung rund um den Tisch. Nächste Pflanze.
Die Liebe zu Kräutern wurde Renate Hau, so scheint es, in die Wiege gelegt. Bereits ihre Oma, so sagt sie, hat aus jeder Pflanze etwas gemacht. Sie selbst ist eigentlich Imkerin. Aber nach einer Ausbildung zur Kräuterführerin und Gartenbäuerin legte sie dann 2006 noch zusätzlich die Prüfung zur Kräuterpädagogin ab. „Wenn im Sommer alles blüht, gibt es etwas Schöneres? Und dazu das Summen und Brummen der Insekten...!“ Wenn Renate Hau von ihrer Faszination für Wildkräuter spricht, sieht man sie schon über bunte Wiesen streifen. Mit einem Korb bewaffnet, und vielleicht sogar mit einem großen Strohhut im Nacken. Die Augen wachsam auf die unterschiedlichen Blätter, Stängel und Blüten gerichtet.
Wer an den Kräutern schnuppert, die die Kräuterpädagogin in kleinen Gläsern mitgebracht hat, und dann den Kräuterrauch riecht, ist womöglich erstaunt. Denn beim Kokeln weichen einige Duftnoten zurück, andere treten stärker hervor. So erscheint Lavendel trotz seiner Frische auch warm und holzig, Kamille süßlich und cremig. Im Räucherduft kommt das Vergängliche der Pflanze zum Vorschein. Der immerwährende Kreislauf der Natur.
Obwohl das Räuchern von Kräutern heute nur selten praktiziert wird, scheint die Tradition doch seltsam vertraut. „Das ist wie in der Kirche, wenn der Pfarrer mit dem Weihrauchfass an einem vorbeiläuft“, bemerkt eine der Frauen am Tisch. In der Tat ist das Räuchern in der katholischen Kirche noch heute üblich. Die Tradition des Räucherns selbst geht jedoch weiter zurück als die Ursprünge der katholischen Kirche. Selbst im alten Ägypten, so erklärt Renate Hau, seien dreimal täglich verschiedene Kräuter verräuchert worden. Ein Tag ohne Duft sei ein verlorener Tag, hätten die Ägypter gesagt.
Am Ende wird der Raum ordentlich gelüftet. Dann verstaut die Zeiler Kräuterpädagogin die getrockneten Pflanzen wieder sorgsam in einer Holzkiste – ihrer „Kräuterkiste“, wie sie sie beinahe zärtlich nennt. Ein Tag ohne Kräuter dürfte auch für Renate Hau ein verlorener Tag sein. Ähnlich wie bei den alten Ägyptern.