Katrin Müller zeigt auf eine mannsgroße Steintafel, die alles andere als gesund aussieht. Mit dicken Verbänden ist die Christusfigur in der dunklen Karthäuserkirche im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg wie eine Mumie umhüllt. „Das war ein besonders komplizierter Patient“, sagt die Restauratorin und steigt mit einem Skalpell in der Hand auf die Leiter.
Vorsichtig löst Katrin Müller mit dem scharfen Messer die Mullbinden von der Jesusfigur, die unter der schweren Last des Kreuzes leidet. Den dicken Verband hat die Restauratorin mit einer speziellen Laugenlösung getränkt, die den Schmutz langsam aus dem Stein heraussaugen soll. „Die Oberfläche ist pechschwarz und verbrannt gewesen“, erzählt die Restauratorin und trennt mit dem Skalpell den Verband, der auf der Innenseite von dem Schmutz im Inneren des Steinreliefs ganz schwarz ist. Während einer der letzten Bombenangriffe auf Nürnberg sei die Stele umgefallen und in den glühenden Schutt geflogen. Dadurch habe sich der Dreck regelrecht in den Stein eingebrannt.
Vor lauter Schmutz und Dreck nichts mehr zu sehen
Das Relief mit dem Titel „Veronika reicht Christus das Schweißtuch“ sei das letzte gewesen, das die Nürnberger aus der Stadt ins Nationalmuseum gebracht hätten. Aus Angst vor dem sauren Regen hätten die schlauen Nürnberger die anderen sechs Tafeln bereits im 19. Jahrhundert nach und nach ins Trockene des Nationalmuseums gebracht und in den Wänden der altehrwürdigen Karthäuserkirche eingemauert, um sie vor dem weiteren Verfall zu schützen.
Viel gesehen von den überwältigenden Szenen des Leiden Christi konnten die Museumsbesucher vor lauter Schmutz und Dreck danach freilich auch nicht mehr. Die sieben Steintafeln standen immerhin über ein halbes Jahrtausend bei Wind und Wetter draußen unter freiem Himmel. „Der Zustand der sieben Kreuzwegstationen wurde ihrer Bedeutung nicht mehr gerecht“, bringt Museumsdirektor Ulrich Großmann das Dilemma auf den Punkt.
Mit Unterstützung der Siemens-Kulturstiftung habe man sich vor zwei Jahren entschlossen, den dunklen Schmutz zu entfernen, um die Qualität der einzelnen Steinreliefs und in ihrer Gesamtheit als Ensemble für die Besucher wieder erlebbar zu machen.
Laugenbad und Verband für die sensible Figuren
Derweil zieht die Restauratorin den schmutzigen Verband vorsichtig von der Figur ab. „Insgesamt waren drei Durchgänge nötig, bis kaum mehr Rückstände auf der Oberfläche zu sehen waren“, erzählt Müller und wirft den alten Verband auf den Boden. Zum Vorschein kommt ein Mantel, den Adam Kraft vor über 500 Jahren mit dem Meißel in den Stein gehauen hat. Mit großen Augen steht die Restauratorin vor dem ergreifenden Kunstwerk. Seit zwei Jahren arbeitet sie an dem Relief. „Ich kann immer nur staunen, was Adam Kraft mit diesem Kreuzweg geschaffen hat“, sagt Müller voller Bewunderung. An manchen Stellen würde sie nicht einmal mit einem kleinen Pinsel richtig hinkommen. „Diese Stellen hat Adam Kraft mit dem schweren Steinmeißel behauen“, sagt Müller anerkennend und zeigt auf die feinen Gesichtszüge der Veronika und die filigranen Faltenwürfe der leidenden Christusfigur.
Mit offenen Mündern werden die Menschen im Mittelalter vor dem Kreuzweg gestanden haben. Beim Abschreiten der
sieben Stationen zwischen dem Johannisfriedhof und dem Tiergärtnertor werden sie so wie wir heute von einem Blockbuster im Kino von der Darstellung der Realität begeistert sind, von der überwältigenden Perfektion geschwärmt haben. „Adam Kraft hat die Bilder in der damaligen Jetztzeit gestaltet“, erklärt der Leiter der Skulpturensammlung, Frank Matthias Kammel, und deutet auf die Figuren, die so ausschauen, wie normale Nürnberger im Mittelalter eben in ihren Kleidern und Gewändern damals ausgeschaut haben. Mit dem Kreuzweg sollte religiöse Überzeugungsarbeit geleistet werden. „Mit dem Kreuzweg sollten die Gläubigen auf der emotionalen Ebene gepackt und zum Mitleiden gebracht werden“, sagt Kammel. Die mittlerweile wieder hell leuchtenden Steintafeln hängen wie riesige Flachbildfernseher an den Kirchenwänden.
Ziel: Alle sieben Figuren bis Jahresende in neuem Glanz
An einigen Stellen sind die alten, dunklen Stellen noch deutlich zu sehen. Bis zum Ende des Jahres will Katrin Müller fertig sein. Zum Glück seien die anderen sechs „Patienten“ nicht so schwierig zu behandeln gewesen wie die im Krieg beinahe total zerstörte und verbrannte Darstellung der heiligen Veronika. Bei Veronika trug sie großzügig Lauge auf die Steintafel auf um den Schmutz in den Poren langsam zu lösen und verband die Figur wie eine Kranke mit Mullbinden.
Bei den anderen Tafeln konnte sie die Lasertechnik verwenden, sagt die 44-Jährige und steigt mit der Laserpistole in der Hand auf ein kleines Baugerüst. Dann wandert ein roter Lichtstrahl über die schmerzerfüllten Frauen aus Stein, die die Kreuzigung Christi beweinen. Durch die konzentrierte Energie des Laserstrahls würden die Schmutzpartikel auf der Oberfläche verdampfen, erklärt Müller und schießt mit ruhiger Hand den Dreck von den bildschönen Steinfrauen.
Zeile für Zeile bearbeitete sie die Steintafel mit dem wenige Millimeter großen Laserstrahl. Zwei Wochen habe sie allein für die „Beweinung Christi“ gebraucht. Trödeln durfte sie nicht. Allein dieses letzte Steinrelief aus dem Gesamtkunstwerk des Nürnberger Kreuzweges sei stattliche 1,70 Meter breit und 1,50 Meter hoch. Die Kosten für die gesamte Maßnahme sollen sich laut Museum auf etwas mehr als 125 000 Euro belaufen. Die Siemens-Kulturstiftung hat die Restaurierung finanziell unterstützt.
Arbeitspartnerschaft wurde Lebenspartnerschaft
„Wir haben uns über den Auftrag hier im Germanischen Nationalmuseum besonders gefreut, weil der Kreuzweg ein so bedeutendes Kunstwerk ist“, sagt Katrin Müller, die mit ihrem Ehemann, dem Restaurator Dr. Walter Hartleitner, in Rügheim bei Hofheim ein Planungsbüro für Naturstein und Denkmalpflege betreibt. „Wir sind über die Arbeit zur Liebe gekommen“, erzählt Müller, die nach einer dreijährigen Ausbildung beim Steinrestaurator und im Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege in Schloss Seehof bei Bamberg nach Köln ging, um Restaurierung zu studieren. Vor elf Jahren kaufte sich das Restauratoren-Ehepaar in Rügheim einen ehemaligen Bauernhof. Seitdem lebt und arbeitet es hier, kümmert sich um Baudenkmalpflege oder die Restaurierung von Steinskulpturen.
Von Hofheim aus viel unterwegs
Weil die Steine häufig so schwer und wertvoll sind wie die sieben Tafeln des Nürnberger Kreuzweges, sind die beiden Restauratoren häufig auf Achse: „Wir sind ständig viel unterwegs.“ Nach Nürnberg zur Restaurierung fahren die beiden seit zwei Jahren. „Nürnberg ist etwas ganz Besonderes. Der Kreuzweg von Adam Kraft ist einfach atemberaubend schön“, schwärmt Katrin Müller und berichtet von den verschwundenen Farbfassungen der Steintafeln, die wissenschaftlich zuvor noch nie richtig untersucht worden seien. „Dieses Thema fehlte noch in der gesamten Adam-Kraft-Forschung. Hier in Nürnberg konnten wir zum ersten Mal die Farbfassungen untersuchen“, freut sich Müller und erklärt, dass die berühmten Steinreliefs früher in den Farben der Hausmauern angestrichen waren. Die Anstriche in ocker, weiß oder rot seien wahrscheinlich als eine Art Wetterschutz auf den Kreuzweg aufgetragen worden.
Als Meisterwerk Adams gilt das Sakramentshäuschen in der Nürnberger Kirche Sankt Lorenz. Der Sockel des beeindruckenden 20 Meter hohen gotischen Turmes aus Sandstein wird von drei Figuren gestützt. In der mittleren Figur hat sich der Bildhauer und Baumeister, der anno 1455 in Nürnberg geboren worden war, neben seinen Gesellen selbst verewigt. Das Sakramentshäuschen, das mit seiner Vielzahl an Figuren das letzte Abendmahl, die Kreuzigung und die Auferstehung Jesus Christi zeigt, hat glücklicherweise den Krieg nahezu unbeschadet überlebt. Die Nürnberger hatten das Meisterwerk vor den Bombennächten in Gips gehüllt.
Kein falscher Eifer mehr
Die frisch polierten Steinreliefs am Kreuzweg sollen nach der Restaurierung übrigens nicht „neu“ angestrichen werden. „Wir Restauratoren wollen erhalten und konservieren. Wir akzeptieren das Kunstwerk, so wie es ist“, sagt Katrin Müller. Früher sei viel hinzugefügt und verbessert worden. „Von dem Eifer ist man heute abgekommen. Man versucht nichts Eigenes hinzuzufügen. Wir Restauratoren freuen uns heute, wenn man unsere Arbeit am Ende gar nicht mehr sieht.“
Spätestens im nächsten Jahr sollen die Besucher die ganze Pracht des mittelalterlichen Kreuzweges wieder im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg erleben können. Dann will das Museum die spannenden Restaurierungsarbeiten auch in einer Ausstellung vorstellen.