„Mehr als enttäuschend“ sind die Aussagen des Todesschützen von Unterschleichach am ersten Prozesstag am Landgericht Bamberg für die Mutter und den Vater des Opfers, der elfjährigen Janina gewesen. Das sagten ihre Anwälte Maximilian Glabasnia (Bamberg) und Norman Jacob (Würzburg) kurz vor Verhandlungsende am Mittwoch zu den Journalisten. Denn die Eltern wissen noch immer nicht, warum ihr Kind sterben musste. Der 54-jährige wegen Mordes Angeklagte räumte zwar ein, in der Silvesternacht 2015/16 aus seinem Garten heraus drei oder viermal seinen Kleinkaliberrevolver abgefeuert zu haben. Aber er habe nicht absichtlich auf Menschen geschossen – und schon gar nicht konkret auf Janina. Diese Angaben wirkten auf viele Prozessbeteiligte und Beobachter aber wenig glaubhaft.
Der gelernte Maurer und spätere Kraftfahrer der Justizvollzugsanstalt Ebrach erklärte dem Schwurgericht der 2. Strafkammer unter Vorsitz von Richter Manfred Schmidt, er habe nicht einmal wahrgenommen, dass sich Personen auf der Straße vor seinem Haus befunden hätten. Er habe „in den Wald hineingeschossen“, der oberhalb seines Grundstückes beginne. Auf die Frage von Richter Schmidt, warum er denn überhaupt zum Revolver gegriffen habe, gab der alleinstehende Vater eines Sohnes im jugendlichen Alter lange keine Antwort, ehe er protokollieren ließ, sich nicht mehr erinnern zu können.
Diese Erinnerungslücke kaufte ihm der Vorsitzende Richter nicht ab: Denn zum sonstigen Ablauf der Silversternacht hatte der Angeklagte sehr genaue Angaben machen können, auch was die Zeit kurz vor und nach dem schrecklichen Geschehen anbelangt: Der Mann war zum Jahreswechsel allein in seinem Haus, dabei war er auf der Wohnzimmercouch vor seinem Fernseher eingeschlafen. Vermutlich hatte ihn Silvesterfeuerwerk in der Nachbarschaft aufgeweckt. Daraufhin ging der 54-Jährige in seinen Keller, holte aus dem Waffenschrank den Revolver Kaliber 22, lud ihn mit Patronen, die er hier ebenfalls unter Verschluss gehalten hatte, und begab sich in seinen Garten. Von hier gab er gegen 1.00 Uhr mehrere Schüsse ab, das ist unstrittig – und ebenso, dass er die Feuerwaffe anschließend sorgfältig reinigte und einölte und wieder im Waffenschrank verstaute, die Patronenhülsen entsorgte und sich auf dem Sofa schlafen legte. Manfred Schmidt sprach deshalb von einer rationalen Kette von Handlungen vor der Tat, die sich auch nach der Tat fortgesetzt habe. „Das war doch alles zweckgerichtet“, wollte Schmidt nicht gelten lassen, dass der Täter kein Motiv nennen konnte. Einen Beweggrund schloss der Vorsitzende selbst aus: Dass der 54-Jährige geschossen habe, quasi um „Silvesterböller“ abzufeuern. Dazu seien die Schüsse aus dieser speziellen Waffe und mit dieser speziellen Munition viel zu leise.
Für Staatsanwalt Otto Heyder steht fest, dass der Angeklagte aus Wut und Ärger über die nächtliche Störung und Frust über die eigene Situation zum Täter wurde. Er habe sich bewusst so in seinem Garten postiert, dass er von den auf der Straße feiernden Menschen nicht gesehen werden konnte, ehe er im flachen Winkel über dem Boden auf diese Personen schoss und dabei „zumindest billigend in Kauf nahm“, jemanden umzubringen. Für den Staatsanwalt handelt es sich deshalb um Heimtücke und niedere Beweggründe, weswegen die Anklage auf Mord lautet. Die Einlassungen des Beschuldigten zu seinen Beweggründen hielt auch Heyder für inakzeptabel: „Ich appelliere an Ihr Gewissen, Sie sind den Angehörigen eine Erklärung schuldig, warum Janina sterben musste.“
Pflichtverteidiger Thomas Drehsen, der zuvor eine Erklärung des Angeklagten vorgelesen hatte, in der dieser sein tiefstes Bedauern über das Geschehen ausdrückt, aber jede Absicht bestreitet, erwiderte, sein Mandant habe eben keine Erklärung für die Tat, es sei für ihn selbst unbegreiflich, was er da getan habe. Im Verlaufe des weiteren Prozesses wird zu klären sein, ob und inwieweit der Todesschütze in der Silvesternacht unter Medikamenteneinfluss stand. Bereits am ersten Prozesstag erfuhren die gut 30 Medienvertreter und 50 Zuschauer, dass der Mann erhebliche gesundheitliche Probleme hat. Er musste in den letzten Jahren mehrere Operationen an Lunge, Magen und Zwerchfell über sich ergehen lassen und befand sich – auch Ende letzten Jahres – in Behandlung wegen Depressionen. Am Mittwoch bereits zeichnete sich ab, dass der 54-Jährige erheblich darunter leidet, dass sich seine Lebensgefährtin und Mutter des gemeinsamen Kindes vor rund fünf Jahren von ihm getrennt hat. Zu den Gebrechen des Linkshänders zählt nach eigenen Angaben auch das starke Zittern der Hände, wegen dem er als Justiziangestellter auch nicht mehr am Schießen im Dienst teilgenommen habe. Früher war der Angeklagte Sportschütze, aber er habe jahrelang keinen scharfen Schuss mehr abgegeben. „Ich hätte den ganzen Scheiß längst verkaufen sollen“, meinte er mit Blick auf die zwei Kurz- und zwei Langwaffen und mehrere hundert Schuss Munition, die die Polizei bei ihm sicherstellte, die er aber rechtmäßig besaß. Mit der Luftpistole hatte er aber auch in jüngerer Vergangenheit auf dem Dachboden in einer Art Schießstand Marke Eigenbau geschossen.
Für Janinas Eltern wurde es besonders schwer im Gerichtssaal, als die unmittelbaren Zeugen des Geschehens Aussagen machten. Das elfjährige Mädchen aus Burgebrach war mit einer befreundeten Familie – Mutter mit drei Kindern – nach Unterschleichach gekommen, um hier bei einer Nachbarin des Täters Silvester zu feiern. Es sei ein schöner, fröhlicher Abend gewesen, erinnerten sich die Gastgeberin und die dreifache Mutter im Zeugenstand. Man habe gegessen, gespielt und gelacht – und kurz nach dem Jahreswechsel trat die kleine Gesellschaft auf die Straße hinaus, um ein wenig Silvesterfeuerwerk abzubrennen, um der Nachbarschaft ein gutes neues Jahr zu wünschen und zu feiern. Janina und ihre Freundin hätten sich eingehakt und sich einen Spaß daraus gemacht, bei jedem Kanonenschlag in die Luft zu springen. Als das Mädchen zu Boden sank, habe man nicht die geringste Ahnung gehabt, was passiert sei. „Steh auf, das ist kein Spaß, du verkühlst Dich“, will die Gastgeberin gesagt haben, als Janina mit weit aufgerissenen Augen auf dem Rücken lag – ehe die Umherstehenden sahen, dass dem Kind Blut aus der Nase schoss. Welches Entsetzen, welche Verzweiflung die Anwesenden danach gepackt hat, wurde im Gerichtssaal klar, als der Mitschnitt des Notrufs vorgespielt wurde, den Janinas Eltern sich allerdings nicht anhörten. Man vernimmt weinende und flehende Stimmen, der Notarzt möge doch endlich kommen (er war innerhalb weniger Minuten vor Ort), das Kind atme nicht mehr und die Beatmung sei so schwer, weil das Gesicht blutüberströmt sei. Eine Krankenschwester, die an den Tatort kam und die Erstversorgung leistete, erklärte, sie habe zunächst vermutet, das Kind habe zu viel Alkohol getrunken und sei schwer gestürzt. Niemand konnte sich einen Reim auf den Zusammenbruch machen, niemand hatte etwas Verdächtiges wahrgenommen oder gar Schüsse gehört. Weil das Haus des Todesschützen dunkel war, waren seine Nachbarn davon ausgegangen, er sei nicht zu Hause.
Das gilt umgekehrt aber nicht für die Personengruppe um Janina herum, die im Licht einer Laterne stand. Auch wenn es im Gerichtssaal am ersten Verhandlungstag noch nicht ausgesprochen wurde, hätte der Todesschütze von seinem Garten aus eigentlich die feiernden Menschen sehen müssen, als er den Schuss abgab, der Janina in den Hinterkopf traf – auch durch die Hecken hindurch, die im Winter kein Laub tragen. Das Gericht wird die Frage zu beantworten haben, inwieweit ein Zigarettenautomat und zwei Stromkästen die genaue Sicht des Angeklagten auf die Menschen auf der Straße vor seinem Haus genommen haben. Den Zeugenaussagen zufolge haben Janinas Freunde und Bekannte in geringem Abstand von ihr noch zum Zeitpunkt des tödlichen Anschlags Feuerwerkskörper abgebrannt – die Aussage des Beschuldigten, er habe 20 oder 30 Meter von ihm entfernt keine Personen wahrgenommen, ist deshalb mehr als fragwürdig.
Auf die Schliche gekommen war die Kriminalpolizei dem Mann vor allem aus zwei Gründen: Bei der Überprüfung aller registrierten Schusswaffen in Unterschleichach war sein auffallend geölter Revolver aufgefallen, obwohl der Mann angegeben hatte, ihn seit Jahren nicht benutzt zu haben. Und ein Zeuge hatte um Mitternacht herum beobachtet, dass im Haus ein Rolladen hochgezogen wurde – der Täter hatte bei der Polizei aber ausgesagt, ab 22.00 Uhr die ganze Nacht durchgeschlafen zu haben. So geriet er ins Visier der Fahnder. Als ihn die Ermittler einige Tage später bei der JVA Ebrach abholten und zur Kripo fuhren, legte der Mann im Auto eine Art erstes Geständnis ab, dass es wohl seine Waffe sein müsse, aus der geschossen wurde und dass er es sein müsse, der den Finger am Abzug hatte. In der Asche seines Ofens fand die Sonderkommission Janina dann auch fünf leere Patronenhülsen.
Die Verhandlung wird am kommenden Mittwoch und Donnerstag am Landgericht Bamberg fortgesetzt. Ein Urteil ist frühestens am 22. Dezember zu erwarten.