Wer glaubt, in den landschaftlich reizvollen Gebieten von Südengland, Wales und Irland genauso entspannt zu radeln wie etwa bei Flusstouren hierzulande, könnte arg enttäuscht werden. Denn vollbepackt dort als Fernradler in die Pedale zu treten, ist oft nicht ganz einfach: Ohne Fahrradwege oder Seitenstreifen sind die von dichtem Baumbestand und hohen Hecken eingerahmten malerischen Nebenstraßen sehr eng und unübersichtlich. Dichter Verkehr zwingt die Autofahrer, abrupt abzubremsen. Dazu kommt ständig hügeliges Gelände mit steilen bis sehr steilen Anstiegen. Immer wieder muss Inge Wagner ihr schweres Rad schieben. Richtig schön und locker sind nur kürzere Strecken entlang von Kanälen. Hier tummeln sich Hunderte von fantasievoll bemalten Hausbooten.
Und doch war es für Inge und Manfred Wagner aus Holzhausen (beide 63) ein faszinierendes Erlebnis, diese Länder über sechs Wochen zu erkunden: Monumentale Sakralbauten und unzählige Klosterruinen zeugen von der frühen Christianisierung, prähistorische Kultstätten verweisen auf steinzeitliche Rituale längst untergegangener Völker und grandiose Naturwunder lassen staunen. Dabei genießen die Unterfranken die Mentalität eines durch und durch lebensfrohen, gastfreundlichen und aufgeschlossenen Menschenschlags.
Nachdem die beiden mit der Fähre zum englischen Dover übergesetzt haben, erreichen sie schon tags darauf ihr erstes Ziel: Das mittelalterliche Städtchen Canterbury. In dessen Kathedrale wurde ein wichtiges Kapitel der englischen Geschichte geschrieben, als im Jahr 1170 der König den Mord an Erzbischof Thomas Becket befahl. Danach führt der Weg der Königsberger nach Süden zum weltbekannten Seebad Brighton.
Fish and Chips strapazieren den Magen
Hier bestellen die hungrigen Radler eine große Portion „Fish and Chips“. Daraufhin rebelliert ihr Magen ob der extrem fetthaltigen Speise und sie verzichten fortan auf diese klassische englische Spezialität. Weiter geht?s zur lichtdurchfluteten Kathedrale von Salisbury, die in dem bekannten historischen Roman „Die Säulen der Erde“ von Ken Follett quasi die Hauptrolle spielt.
Da den Reisenden Petrus wohlgesonnen ist, können sie tagsüber meist im Freien Brotzeit machen. Einen ruhigen und zugleich besinnlichen Platz dafür finden sie auf malerischen Friedhöfen mit uralten, oft schräg in der Erde versunkenen und verwitterten Grabsteinen. Zum weltberühmten, aber nicht unmittelbar zugänglichen Stonehenge machen sie nur einen kurzen Abstecher. Mehr Zeit nehmen sie sich für den nicht weniger eindrucksvollen riesigen Steinkreis von Avebury und dem in den Kalkfelsen geschabten riesigen weißen Pferd von Westbury.
In Wales stoßen die Franken auf zweisprachige Straßenschilder: Englisch und Walisisch. Höchst ungewohnt ist dabei der Doppelkonsonant „Ll“, ein wesentlicher Bestandteil der walisischen Sprache. Beispiele: Llanidloes und Llanberis, aber auch zungenbrecherische Namen wie Llwybr. Rund 20 Prozent der Bevölkerung sprechen walisisch. Ein Dorf prahlt mit dem zweitlängsten Ortsnamen der Welt: Llanfairpwllgwyngyllgogerychwyrndrobwllllantysiliogogogoch.
Nach rund 1000 Kilometern setzen die Wagner vom walisischen Fishguard nach Irland über. Auf der grünen Insel erwartet sie eine liebliche, dörfliche Gegend. Saftige Wiesen mit uralten Steinmauern prägen die Landschaft. Überall trifft man Zeugnisse der Vergangenheit: unglaublich viele Kirchen- und Klosterruinen sowie Reste von Burgen und Schlössern. Hoch verehrt wird der Nationalheilige St. Patrick, der den Iren im 5. Jahrhundert nicht nur das Christentum gebracht, sondern mit seinem Bischofsstab auch alle Schlangen von der Insel verbannt haben soll.
Die Wagners nehmen sich Zeit, um die Cliffs of Moher mit ihren spektakulären Steilklippen zu erwandern. Abends lassen sie sich beim Besuch der irischen Pubs von der wunderbaren Atmosphäre der entspannten und lockeren irischen Lebensart bezaubern. Ein frisch gezapftes Guinness gehört dazu. Nach einigen Tagen erreichen sie Nordirland, von einer Grenze ist nichts zu sehen. Das könnte sich mit dem Brexit bald ändern.
Um nachmittags ihren Schnellkaffee aus der Thermoskanne genießen zu können, sprechen die beiden täglich Einheimische an. So kommen sie mit den Menschen ins Gespräch, etliche bitten sie in ihr Haus. Dabei kommt es sogar vor, dass man ihnen Tee und Marmeladenbrote serviert oder irischen Whisky anbietet.
Die Natur als Baumeister
An der Küste bewundern die Reisenden den Giant?s Causeway, der aus Tausenden von gleichmäßig geformten Basaltsäulen, meist mit sechseckigem Querschnitt, besteht. Unweit von diesem Weltnaturerbe radeln sie durch die mystische und surreal anmutende Buchenallee der Dark Hedges – für Fans der TV-Fantasyserie „Game of Thrones“ eine wahre Pilgerstätte.
Bis auf wenige Ausnahmen ist für Wagners Camping angesagt. Eine ungewöhnliche Übernachtung erleben sie, als ein Mönch der Zisterzienser sie ins Gästehaus des Klosters bittet. Zumeist aber schlafen die Königsberger unter freiem Himmel – in ihrem Tausend-Sterne-Zelt.