Allein schon das Ambiente für diese persönliche Lebensreise in die Vergangenheit passte: Reicher Stuck und Medaillons zieren die Decke der Aula im Franz-Ludwig-Gymnasium. Ein passender Hauch Nostalgie also für die Erlebnisse in der Kindheit eines heute über 80-Jährigen Autoren, dessen Lesung am Sonntagabend zu einem Höhepunkt des Bamberger Literaturfestivals 2021 geriet.
Das Publikum im ausverkauften Saal begrüßte Paul Maar, den Grandseigneur der Bamberger Literaturszene, schon mit tosendem Applaus. Der schlanke Mann mit weiß gewelltem Haarschopf nahm diese Sympathiekundgebung fast verlegen entgegen: „Ich bin vor Erwachsenen nervöser als vor Kindern“, gab dieser international gefeierte Kinderbuchautor freimütig zu. Doch selbst, wenn seine Nerven vibrierten: Paul Maar gelang es von der ersten Sekunde seines Auftretens an zu fesseln. Und das mit einem Genre, das zunächst in seinem Zusammenhang verblüfft: mit einem Roman auf hohem Niveau für Erwachsene, die ihren Kindern oder Enkeln Maars wundersame Geschichten des Sams und anderer berühmt gewordener Figuren vorgelesen haben.
Erinnerungen an eine nicht nur glückliche Kindheit
Paul Maar trug einige Kapitel aus seiner im Jahr 2020 erschienenen Biografie „Wie alles kam – Roman meiner Kindheit“ vor. Er tat dies so eindringlich, so stimmlich und gestisch moduliert, dass der kleine Junge Paul lebhaft vor Augen stand. In einer Sprache, die Wortwahl, Satzbau, Rhythmik meisterhaft zu einem poetischen Ganzen verwebt, hat Paul Maar seine bewegenden Erinnerungen aufgeschrieben. Auch unangenehme Erinnerungen an eine nicht nur glückliche Kindheit mit einem gewalttätigen, jähzornigen Vater, „die schmerzhaft überwältigen können“, wie der ältere Herr sagte. Erinnerungen aber auch an das Paradies bei den Großeltern im unterfränkischen Obertheres, an die Gerüche seiner überschaubaren Umwelt und an die Streiche, die Buben nun einmal so machen.
Was Paul Maar an diesem Abend nach einem „Prozess des Erinnerns anhand alter Fotos“ las, ließ ahnen, wie er sich Lebensfreude abtrotzen musste. Was ihm Abenteuer und Freundschaft bedeutet haben. Wie ein empfindsames Wesen sich auf eine innere Insel zurückzieht, um in der Welt der Erwachsenen überleben zu können. In den Schilderungen von Kindheitserlebnissen blitzte auf, was Maars Erfindung des einmaligen Fabelwesens Sams erklärt: nämlich vor allem Empathie für die Schwachen, Schüchternen, Zurückgesetzten, die ein Lebenselixier brauchen. Die sich mit Hilfe von wie auch immer gearteten „Wunschpunkten“ in eine erträglichere Welt hineinträumen.
Brenzlige Situation in einer Mädchenschule in Kairo
Maars Lesung bewies auch, wie die Schwerkraft von Unwägbarkeiten sich in eine Leichtigkeit des Seins verwandeln kann. Wie etwa die brenzlige Situation in einer von Nonnen geleiteten deutschen Mädchenschule in Kairo, in der der nunmehr erwachsene Schriftsteller Paul Maar während einer Lesung den Schülerinnen Tätowierungen erklären soll, und das bei frommen Seelen verpönte Wort „Brust“ als Körperstelle dafür ausspricht. Und die als Wachhund in der Schulklasse verharrende Schwester Kreszentia plötzlich den Ärmel ihrer Kutte aufrollt und sagt: „Das ist eine Tätowierung!“ Auf ihrem linken Unterarm war ein großes, rotes Herz eintätowiert, aus dem oben eine gelb brennende Fackel ragte. „Ich stellte mir vor, dass sie als Rockerbraut ein Erweckungserlebnis gehabt hatte wie weiland der Apostel Paulus“, fuhr Maar trocken in seiner Lesung fort.
Diese Episode brachte er als erklatschte Zugabe zu seinen szenischen Rückblenden. Als in sich geschlossenes Werk, zu dem beispielsweise auch eine Liebeserklärung an Ehefrau Nele gehört, konnte der Roman undank der strikten Zeitvorgaben für diese Veranstaltung allerdings nicht erschlossen werden. Zumal Moderatorin Asli Heinzel der Versuchung widerstand, eine ausführliche Inhaltsangabe zu geben und Paul Maar in langatmige Interviews zu verwickeln. Nur kurz streifte sie die überaus fruchtbare Schaffensperiode Maars in den zurückliegenden Corona-Monaten: „Durch die Ruhe und Besinnlichkeit hatte ich viel Zeit zum Schreiben“, blickte der Autor auf gleich vier Neuerscheinungen zurück, darunter eben sein biografischer Roman oder von ihm illustrierte Hundegeschichten.
Ansonsten überließ Asli Heinzel dem lesenden und erzählenden Paul Maar die Bühne. Und auch dem in Bamberg gut bekannten Musiker Wolfgang Stute, der mit virtuosen Gitarrenklängen die einzelnen Buchkapitel in Töne zauberte. Dieses kongeniale Duo faszinierte die Zuhörer, unter ihnen die Schirmherren des BamLit, Tanja Kinkel und Nevfel Cumart.