
Martin Walser feiert in diesem Jahr seinen 90. Geburtstag, was ihn nicht davon abhält, zu schreiben und auch aus seinen Werken bundesweit zu lesen. Anlässlich seines Gastspiels in Haßfurt stattete die Heimatzeitung dem großen Schriftsteller in seinem Haus in Nußdorf am Bodensee einen Besuch ab, um mit ihm über sein neuestes Buch und über zeitgenössische Themen zu sprechen.
Das jüngste Werk: Statt etwas oder Der letzte Rank
HT: Nach welchen Kriterien suchen Sie die Passagen aus dem Buch „Statt etwas oder Der letzte Rank“ aus, aus dem Sie in Haßfurt vorlesen?
Das hat mich zunächst etwas irritiert.
Das ist klar. Manche Leser sind das auch nicht gewohnt – oder viele. Beispielhaft: Es hat eine Kritikerin, die also von mir einfach nur Belletristik erwartet, geschrieben, man möchte doch wissen, wie der aussieht, was der für Haare hat. Das tut mir leid, ich finde das innere Aussehen ist mir dieses Mal wichtiger als alles Äußere. Und das innere Aussehen das muss natürlich genau sein, das muss man auch erzählen können. Ich hab's ja auch so geschrieben. Als dieser Satz da kam „Mir geht es ein bisschen zu gut“, denke ich: Hallo, dazu musst du noch etwas sagen, das kannst du so nicht stehen lassen und dann hab ich's halt geschrieben.
Der Satz kommt ja immer wieder...
Ja, als ich gemerkt habe, wie das läuft, was mir nicht von Anfang an bewusst war, als ich gemerkt habe, dass ich aus irgendwelchen Gründen, die ich gar nicht wissen will, diesmal keine Belletristik schreibe, keinen Normalroman, sondern sowas ganz Direktes, als ich das bemerkte, habe ich natürlich dann schon auch sozusagen mitgedacht. Das heißt, ich habe dann so gut wie möglich alles Belletristische vermieden. Ein paar Kapitelchen sind trotzdem drin, die so ein bisschen daran erinnern, aber jedes dieser Kapitel hat einen Übersprung, der in einem Roman normalerweise nicht vorkommen kann. Aber als ich das gemerkt habe, habe ich das auch bewusst gefördert. Ein Beispiel: Einmal kommt der Satz vor „Ich huste, also bin ich“ und da gibt's noch andere: „Ich suche, also bin ich.“ Dann habe ich dieses Motiv Variationen des berühmten Satzes von Descartes „Ich denke, also bin ich“, und dann war ich ganz glücklich, als ich sah: „Ich huste, also bin ich“ – endlich! „Ich denke, also bin ich“, also bitte, das war einmal wichtig in der Aufklärung, so zu schreiben, aber jetzt: Danke, nein. Aber: „Ich huste, also bin ich“, „Ich suche, also bin ich“. Und das Motiv habe ich bewirtschaftet bis zum Schluss. Da sagt er: „Ich bin, also bin ich.“ Und das nenn ich dann wirklich ein Happy End. Da kommt er zu sich und das war das.
Das ganze Buch ist eine Entwicklung, eine Selbstbefreiung eines Menschen, der nicht ich bin, aber es ist meine Figur. Eine Selbstbefreiung eines Menschen, der am Anfang merkt, dass er viel zu sehr sich dauernd für die Welt interessieren musste, er sollte alles wissen wollen und alles genauer wissen wollen, da hat sich die Welt eingenistet in mir und auf ihn kam's gar nicht mehr an, sondern nur auf die Anforderungen der Welt. Und jetzt darf endlich einer ganz bei sich sein – oder dann auch mit einer Frau. Aber diese Befreiung war für mich – muss ich sagen - ein unheimlich angenehmes Schreiberlebnis. Das ist glatt gelaufen wie nichts.
Das übt auf mich auch eine absolute Faszination aus, aber es ist anders...
Das habe ich inzwischen ja auch schon gemerkt, also wie diese, sag ich jetzt ein bisschen abschätzig, naive Kritikerin, die vermisst, wie der aussieht. Gut, da sieht man, wie viel die Routine, die Leseroutine, die Erwartungsroutine ausmacht. Es muss sein, wie es immer war, gut, das wurde mir dann schon klar. Ich meine, es ist keine Frage des Niveaus oder der Intelligenz, aber ich habe wunderbare Reaktionen erlebt. Ich kann nur sagen, ich staune, weil ich auch immer gedacht habe: Hei jetzt ist es kein üblicher Roman – und was wird weiter? Man hat alle möglichen Befürchtungen, und ich kann Ihnen sagen, ich staune, weil die Reaktionen sind eben diesmal – also die meisten, nicht alle – viel direkter als bei einem normalen Roman, das ist viel offener, viel daseinsmäßiger. Das kann ich nicht anders sagen.
Ich meine, es klingt etwas pathetisch oder übertrieben, wenn ich sage, ich bin ein bisschen – das passt zwar nicht ganz zu mir – aber ich bin nahezu glücklich, in einem Land zu leben, in einer Sprache zu leben, in der man sowas anbieten kann und es kommt auf die Bestsellerliste, obwohl es kein Kriminalroman, kein üblicher Liebesroman ist – Donnerwetter!
Es gibt keine andere Sprache, die solche Möglichkeiten bietet wie die deutsche Sprache.
Der Spiegel macht zu diesem Geburtstag (Martin Walser wird am 24. März 90 Jahre alt, die Red.) etwas Besonderes und hat mich gefragt, ob ich auch etwas beisteuern möchte. Dann habe ich mich hingesetzt und geschrieben: „Danksagung an die Sprache, die deutsche.“ Und dann hab ich mich wirklich bedankt bei dieser Sprache, was sie einem ermöglicht. Die ganze Herkunft aus der Mundart, aus dem Dialekt und dann ins Hochdeutsche. Was das für ein Ausdrucksweg ist. Was für eine Kontrollschärfe der Dialekt hat über das Hochdeutsche und so weiter, da habe ich mich dann bei dieser Sprache bedankt.
Eine ausländische Zeitschrift hat mich einmal gefragt über Mundart. Da habe ich ihnen einen Aufsatz geschrieben, der hieß: „Deutsch war nicht meine Muttersprache.“ Meine Mutter hat keinen Satz hochdeutsch sprechen können. Wenn sie hochdeutsch gesprochen hat, hat das geklungen wie Kabarett. Sie hat rein alemannisch gesprochen. Und das Alemannische ist eine reiche Sprache. Wir haben im Alemannischen noch viele Wörter, die das schlampige Hochdeutsch verloren und vergessen und verdrängt hat. Der Untertitel: „Der letzte Rank“ – Rank ist alemannisch, bei uns sagt man: Du kriegst den Rank nicht mehr. Hochdeutsch hat Kurve – Ich bitte Sie: Kurve! Was ist Kurve gegen Rank?! Und so gibt es viele Sachen. Ich habe auch geschrieben: Ohne die Mundarten wäre der deutsche Föderalismus abstrakt und leblos.
Wie kommt man auf den Gedanken zu so einem Buch? Fängt man einfach an zu schreiben?
Das ist kein Gedanke. Ich sag's einmal so: Schon der Satz: „Mir geht es ein bisschen zu gut.“ Der steht da am Vormittag auf dem Papier und der enthält ja die Notwendigkeit, dass man sich jetzt sagt, bitteschön: Was heißt das? Warum? Und dann fängt man an zu schreiben und dann merkt man, was die Sprache vermag. Da schreibt er mal so hin, das mit den Theorien und so und so – und dann kürzt er ab und sagt: „Zu träumen genügt.“ Hat er einen Satz, denkt er: „Mir geht es ein bisschen zu gut. Zu träumen genügt.“ Und dann merkt er plötzlich, dass er Sätze braucht. Dann kommt der Satz: „Unfassbar sein wie die Wolke, die schwebt.“ Jetzt kann ich Sie fragen, ja wieso schreibt das einer: „Unfassbar sein wie die Wolke, die schwebt?“ Das ist die Stimmung dessen, der da jetzt schreibt, der diese Figur bedient. Gottseidank muss ich selber nicht wissen, warum. Es hat auch keinen Sinn. Nachher, wenn etwas fertig ist, also auch beim normalen Roman, beim normalen Roman natürlich sogar noch deutlicher als jetzt bei diesem Buch – nachträglich weiß ich doch ziemlich gut, warum das Buch entstanden ist. Beispiel: Ich habe einen Roman geschrieben Verteidigung der Kindheit. Ich wollte die Liebe zwischen einem Sohn und einer Mutter zur Zeit der deutschen Teilung beschreiben. Der Sohn musste dort weg und hing ganz arg an seiner Mutter. Also Sohn-Mutter-Liebe unter deutschen Teilung. Das war ein Thema. Wenn man das als Thema begreift, dann schreibt und schreibt man, dann kommt einem sehr viel, was dazugehört, zur Verlebendigung genau dieses Themas. Also nachträglich kann ich auch dann sagen, warum hat mich das interessiert – aber vorher schon ganz sicher nicht. Ich sage auch immer, man lernt einen Roman erst dadurch kennen, dass man ihn schreibt. Und deshalb finde ich, so interessant wie das Schreiben kann das Lesen gar nicht mehr sein. Denn ich möchte wissen, wie es weitergeht.
Die Geschichte entwickelt sich also eigentlich selbst während des Schreibens?
Ich sage auch, jeder Roman produziert sein eigenes Ende. Ich kann nicht sagen, der Roman muss da und da hinkommen und das muss so und so aufhören. Ich sag einmal, wenn der Roman so ungefähr die Hälfte hat, dann tendiert er schon und letzten Endes produziert er das Ende erst ganz zuletzt. Das ist etwas ganz Natürliches. Man kann doch nicht im ersten Drittel sagen, wohin das führen wird. Das Schreiben ist auch ein – ich will jetzt nicht übertreiben – aber es ist fast ein Abenteuer, wie das jedes Mal geht.
„Ich bin negativ nicht fruchtbar“
HT: Ich muss natürlich auf den „Tod eines Kritikers“ kommen. Hier muss man nicht fragen, warum es geschrieben wurde?
Martin Walser: Das ist eine einfache Sache. Wenn man das erwähnt, dann muss man den ganzen Skandal charakterisieren. Gestern war eine sehr gescheite Kritikerin aus Österreich, aus Wien da und die wusste Bescheid und hat in einem Vortext zu dem Buch gesagt, Reich-Ranicki hat ja, nachdem das Buch da war, öffentlich in München gesagt, es sei ein schlechtes Buch, aber es sei nicht antisemitisch. Herr Schirrmacher (der damalige FAZ-Herausgeber, die Red.) und ähnliche Gesellen haben dann daraus ein antisemitisches Buch gemacht. Weil der Herr Schirrmacher brauchte immer einen Skandal, in jeder Saison einmal, entweder das oder das. Und da hat er leichtfertig daraus einen Skandal gemacht.
Ich habe immer dazu gesagt, es ist zwar ganz klar, dass das Buch, dass meine Figur Ehrl-König sozusagen sein Roman-Dasein Erfahrungen verdankt, die der Autor mit Reich-Ranicki gemacht hat, das stimmt. Aber ich weiß aus Erfahrung und habe es auch immer wieder gesagt: Ich kann nur aus Liebe schreiben. Ganz egal, welche Art von Empfindung ich einer Figur gegenüber habe, ich kann nicht ein Jahr lang mit einer Figur da am Schreibtisch umgehen, ohne dass ich alles tu, um diese Figur verständlich zu machen. Das heißt, ich empfehle sie dem Verständnis des Lesers. Das ist das eine. Das ist vielleicht sogar ein Mangel. Es gibt ja Romane, die davon leben, dass es ungeheuer negative Szenarien und Figuren gibt. Bei mir gibt es keine. Das kommt bei mir nicht vor. Ich bin negativ nicht fruchtbar. Also habe ich, wenn man schon so will, dass die Figur dem Reich-Ranicki zuzuschreiben ist, dann habe ich aber aus ihm eine Figur gemacht, ich habe sie eingereiht in die Ebene Kennedy, Chaplin. Ich habe ihn vergrößert. Also in meinem Buch streiten sich zum Beispiel mehrere Städte darum, dass er in dieser Stadt geboren sein soll. Das gibt es in der Kulturgeschichte bis jetzt nur von Homer, dass sich mehrere Städte um die Geburtsstadtehre streiten. Das habe ich ihm angedient und so weiter und so fort. Ich habe ihn groß gemacht, unterhaltsam – gut in Wirklichkeit war er auch unterhaltsam. Aber der meine ist auch unterhaltsam.
Ich kann Ihnen sagen, diese Erfahrung dieses Skandals das war das Negativste, was ich in meinem Leben erlebt habe. Es gibt keinen deutschen Autor, der aus gegebenem Anlass natürlich, das ist nicht in jeder Generation zu erwarten, aber es gibt keinen deutschen Autor, der mehr über die Geschichte Deutsche und deutsche Juden geschrieben hat. Ich habe das auf Anlass des Verlegers zusammengefasst in dem Taschenbuch „Unser Auschwitz“. Von 1964 bis in die Gegenwart habe ich noch und noch, immer wieder in Stücken und Romanen darüber geschrieben. Und mich dann einen Antisemiten zu nennen, ist phantastisch. Und das zeigt die Perversion, zu der der Kulturbetrieb aus wirtschaftlichen Gründen imstande ist. Denn es war nichts anderes. Der Schirrmacher kann mir nicht weißmachen, wie das praktisch war. Damals war es ja so, dass die FAZ jeden neuen Roman von mir vorab gedruckt hat. Das war damals noch Brauch. So war es auch diesmal. Das Manuskript („Tod eines Kritikers“, die Red.) hingeschickt und am Freitag ruft der Hieber, Mitarbeiter im Feuilleton, an und sagt: „Herr Walser, wunderbar, wir bringen das. Nur der Schirrmacher hat es noch nicht gelesen. Der liest's übers Wochenende. Aber es ist ja alles ganz klar.“ Und er hat gesagt – am Freitag –, weil ja doch der Reich-Ranicki sozusagen darin vorkommt, schlägt er, der Herr Hieber, vor, sie machen ein Abendessen am Montag mit dem Reich-Ranicki und ich komme dazu als Überraschungsgast. Habe ich gesagt: „Wunderbar, mach ich, kein Problem.“ Und am Montag: Rücksteuerung: „Herr Schirrmacher hat's gelesen, kein FAZ-Vorabdruck.“ Und er schreibt einen ungeheuren, bösartigen, polemischen Verriss gegen das Buch. Und er bestimmt die Melodie, die dann die Opportunisten nachgesungen haben. So eine Erfahrung muss man nicht, darf man aber schon machen, dass man in einer Gesellschaft lebt und plötzlich erfährt, was für eine Gewalt im immer weckbaren Opportunismus liegt, wenn er medial aufblühen darf. Und das durfte er da. Da wurden die dümmsten Sachen gegen mich vorgebracht, scheußliche. Die haben sich nicht einmal vor Nazivokabular gescheut. Ich sag nur, eine solche Erfahrung habe ich nicht ganz umsonst gemacht. Ich habe gemerkt, wie labil das Dasein eines Intellektuellen, eines Schriftstellers ist. Es genügt, dass einer der Gewaltigen das anstimmt. Und schon machen sie alle mit. Ich hab's überlebt, aber es war schwer. Da wird einem ja sozusagen der Boden unter den Füßen weggezogen. Im Jahre 2002, muss man sich vorstellen – was habe ich alles geschrieben an Stücken, an Aufsätzen, an Romanen, wo das alles vorkommt. Da hätte doch schon längst einer vorher was merken müssen. Ich könnte Sachen zitieren, aber...
Er hat den Skandal gebraucht, er hat ihn gekriegt und das Wichtigste für mich war dieser Opportunismus von Leuten, die plötzlich gemerkt haben: Ah, jetzt kann man was machen. Und dann machen sie's.
Aber das hat nichts genützt. Es kamen ja mehrere Sachen zusammen, die in der Wirklichkeit ausschlaggebend waren. Es war im April 2002. Siegfried Unseld (der damalige Verleger im Suhrkamp Verlag, die Red.) war noch nicht krank, aber er kränkelte. Er war nicht mehr jeden Tag im Verlag. Er hat es gelesen und hat mich angerufen und gesagt: „Es ist ein Meisterstück.“ Und dann, als der Schirrmacher mit den anderen Medien den Skandal gemacht hatte und der Siegfried nicht mehr in der Verlagsführung jeden Tag da war, hat der Verlag sich scheußlich opportunistisch benommen. Er hat das Buch gebracht ohne Klappentext, ohne jede Empfehlung, nur weil er es vertragsmäßig bringen musste. Versteh'n Sie? Er hat sich distanziert von dem Buch, mein eigener Verlag. Das war die Absprungmotivierung, dass ich den Verlag verlassen musste. Ein Verlag, der dich im entscheidenden Augenblick verlässt: Dankeschön, nicht mit mir.
Ja, ich hatte damals die Möglichkeit, da und da hinzugehen. Ich hatte schon früh, als der Suhrkamp-Verlag noch keine Taschenbücher hatte, schon „Ehen in Philippsburg“ geschrieben, das ist als Taschenbuch im Rowohlt-Verlag erschienen. Verleger Ledig-Rowohlt, den ich da und da mal kennengelernt habe, war eine wunderbare Verlegerfigur. Der war zwar da schon nicht mehr da, aber mit dem hatte ich auch eine gute Beziehung.
Walser: In zehn Jahren weiß keiner mehr, was AfD war
HT: Sie waren immer auch ein politischer Mensch. In einer Zeit mit einem Donald Trump, mit Pegida, mit AfD, mit Marine Le Pen: Machen Sie sich Sorgen um die Zukunft?
Warum? Wir leben in Deutschland. Wieso soll ich mir Sorgen machen?
Ist die Entwicklung nicht beängstigend?
Ja was soll denn sein? Was können Sie sich denn als gefährlich vorstellen?
Zum Beispiel der Brexit, die Zukunft von Europa?
Es kommt jetzt im Frühjahr ein Buch heraus, das heißt „Ewig aktuell“. Und das sind alle Aufsätze und Artikel, die ich aus gegebenem Anlass geschrieben habe. Wenn Frau Merkel nach Afghanistan zu den Soldaten gefahren ist und so weiter oder wenn Bloch im Westen veröffentlicht worden ist, also immer politische Anlässe, Wahljahre und so weiter, habe ich immer geschrieben. Thekla Chabbi hat das jetzt gesammelt und ich war sehr erstaunt. Da habe ich gesehen, auf was alles ich von 1959 bis 2016 reagiert habe. Es gibt nichts, worauf ich nicht reagiert habe. In den 60-er Jahren hat Amerika den Krieg in Vietnam geführt. Die deutschen Medien und die deutsche Politik waren entweder still oder duldend oder sogar unterstützend. Der Bundespräsident hat ein Glückwunschtelegramm nach Washington geschickt, als die Amerikaner Hanoi bombardiert haben. Dieser furchtbare Krieg! Da habe ich ein Vietnambüro gegründet und bin herumgereist und habe geredet und geredet und geschrieben. Und damals – und ich habe keine östlichen Quellen zitiert, nur französische und amerikanische Quellen – und damals war man, inzwischen ist das nicht mehr so üblich, da war man nicht mehr auf dem Boden des Grundgesetzes. Und wenn man da nicht drauf war, dann war man ein Kommunist. Und weil ich sowieso links tendiert habe, politisch war ich links, da haben sie aus mir einen Kommunisten gemacht. Nachher, als der Schwindel vorbei war, hatte McNamara, Oberbefehlshaber in Vietnam, Memoiren geschrieben und hat gesagt: Der Krieg war ein schrecklicher Irrtum. Der Irrtum hat zwei Millionen Menschen das Leben gekostet! Und bei uns waren sie still oder duldend oder unterstützend. Und das hat mich provoziert. Ich bin kein politischer Mensch, aber ich konnte mich nie beherrschen. Gut, ich habe gesehen, dass diese Gesellschaft ungerecht formiert ist. Ich habe gesehen, dass die Menschen in den Betrieben abhängig sind und sich kaum wehren können. Ich wollte eine Werktagsgerechtigkeit. Ich habe mich mit den Gewerkschaften zusammengetan.
Ich war der erste Intellektuelle, der da 1961 ein Buch herausgegeben hat mit dem Titel: „Die Alternative oder brauchen wir eine neue Regierung.“ Da habe ich für die SPD Werbung gemacht, dass die die in ihren Quartieren erstarrte CDU ablösen würde. 1965 habe ich das nicht mehr gemacht. Ich habe Willy Brandt treffen können und ich habe ihn gefragt: „Wie halten Sie es mit Vietnam?“ Da hat er eine ausweichende, lächerliche Antwort gegeben, die erlogen oder erfunden war. Er hat gesagt: „Da brauchen Sie sich keine Sorgen machen, das ist im Herbst schon vorbei.“ Von wegen, es ging noch jahrelang weiter. Als ich das gehört habe, war bei mir Schluss mit der SPD und dann war ich links von der SPD – dann war ich also ein Kommunist. Und das bin ich geworden für die Öffentlichkeit hauptsächlich durch meine Aktivität, was Vietnam betrifft. Natürlich hat es mich dann auch gestört, es gab eine – gibt? die überhaupt noch? – DKP. Und ich habe einen Artikel geschrieben in der „Zeit“, weil es gab gewisse Einschränkungen für die DKP, die Wählbarkeit betreffend, weil die natürlich zu stark abhängig waren von der DDR. Das weiß ich schon. Trotzdem, hier musste sie wählbar sein. Dafür habe ich mich dann auch eingesetzt.
Damals war ich in Hamburg, da durfte ich Herrn Bucerius, den Herausgeber der „Zeit“, kennenlernen. Wir haben miteinander geredet und ich habe ihm gesagt, wie schlecht in seiner Zeitung die Berichterstattung über Vietnam ist. Da hat er gesagt: „Herr Walser, fahren Sie für uns hin.“ Sage ich: „Aber Herr Bucerius, sofort! Abgemacht, ich reise für die Zeit nach Vietnam.“ Heimgeflogen, drei Tage später kam ein Brief vom Bucerius: „Herr Walser, wir haben das hier besprochen und es hat sich herausgestellt, hier sind wir der Meinung, Sie wissen jetzt schon, was Sie schreiben werden über Vietnam. Deswegen möchten wir darauf verzichten, dass Sie dahin fahren.“ Dann ist diese Gräfin Dönhoff dorthin gefahren. Ich durfte nicht nach Vietnam.
Einmal hat der Stern Schriftsteller in ihre Wunschgegend fahren lassen, dorthin, wo sie am liebsten wären. Da ist der Baumgart – glaub ich – nach Bali, der Andersch nach Kalifornien, an lauter Sehnsuchtstrände. Und ich habe gesagt, ich möchte nach Trinidad-Tobago. Weil da war eine Revolution – ich habe mich da informiert. Ich wusste, die haben einen schwarzen Ministerpräsidenten, der hat einmal in England promoviert über den Titel „Variations of a stranglehold“, Variationen eines Würgegriffs. Oder so ähnlich. Und das hat mich interessiert. Also bin ich mit meiner Frau dorthin geflogen und ich habe entdeckt: Der Kapitalismus aus Kanada und England und USA hatte das Land noch völlig beherrscht und ausgebeutet nach Strich und Faden. Und der tolle, liebe schwarze Ministerpräsident hatte nichts mehr zu melden. Dann habe ich eben einen Artikel geschrieben auch unter dem Titel „Variationen eines Würgegriffs“ und dem „Stern“ geschickt. Der Artikel wurde nicht gebracht. Dann wollten sie nicht einmal die Reise bezahlen. Das waren die politischen Anlässe in meinem Leben. Das waren die Provokationen durch das politische Abenteuer. Und deswegen kann ich mich über Le Pen und Trump nicht erregen. Das ist harmlos.
Diese unangenehmen Erfahrungen waren Produkte des Kalten Kriegs. Der Kalte Krieg hat bei uns auch eine Radikalisierung des Denkens, eine lächerliche Einschränkung der Denkfreiheit gebracht. Dagegen habe ich mich oft wehren müssen. Aber darüber sind wir ja zum Glück hinweg – bitteschön – durch das Schönste, was in tausend Jahren in Deutschland passiert ist, durch diese Einigung, die ich immer wollte, als man sie noch nicht wollen durfte. Ich habe ja diese Teilung bis in die 70-er mitgemacht, habe mich gewundert, habe mich nicht getraut. Und dann habe ich einen öffentlichen Vortrag gehalten, dass ich gegen die deutsche Teilung bin, und habe das begründet, begründet, begründet – jahrelang – und da war ich kein Kommunist mehr, da war ich ein Nationalist. Und da haben wunderbare Kollegen gegen mich geschrieben. Da war ich einfach abgemeldet intellektuell: „Jetzt ist er gegen die Teilung!“ Und deswegen kann ich sagen, als die Teilung dann vorbei war, das bleibt für mich in meinem Leben das Größte, Schönste. Es gibt nichts, das schöner war als diese Vereinigung. Und seitdem bin ich auf einem simplen zustimmungsfreudigen Kurs.
Und AfD und so – das haben wir alles ja auch schon gehabt. Die hießen einmal Republikaner und kamen aus Bayern, glaub ich, und jetzt haben wir sie wieder. Nach meinem Urteil gibt es in jeder Gesellschaft immer einen Teil von – sagen wir mal – Zukurzgekommenen. Und wenn eine Gesellschaft in irgendeine Krise gerät, dann machen diese Zukurzgekommenen daraus ihr Geschäft. Sie sehen ja, es hat ihnen das und das gefehlt und dann glauben sie, jetzt haben wir diese Krise mit den Flüchtlingen und so, und jetzt machen sie AfD. Ich hab's leicht, weil ich werde es ja nicht mehr erleben. Aber ich würde jede Wette machen, in zehn Jahren weiß kein Mensch mehr, wer das war – AfD.
Natürlich ist das eine ungeheure Belastung, was da an Flüchtlingen passiert. Das ist ja eine Völkerwanderung. Wir werden Zeugen und Mitwirkende bei einer Völkerwanderung. Und ich sage, unsere Frau Merkel hat Gott sei Dank den Mund zu voll genommen und hat gesagt: „Wir schaffen das.“ Und ich finde das toll, dass sie den Mund zu voll genommen hat.
Walser: Ich bin ein Leser
HT: Sie sind rast- und ruhelos, viel unterwegs. Sie schreiben viel. Haben Sie überhaupt Zeit und Muße, einmal ein anderes Buch zu lesen?
Martin Walser: Ich bin bei Gott ein Leser, aber das heißt nicht, dass ich die ganze aktuelle Buchproduktion mitlesen könnte. Es gibt unter den Gegenwartsautoren ein paar, die ich mitlese, von denen ich jedes Buch lese. Arnold Stadler zum Beispiel, Karl-Heinz Ott, sowieso Botho Strauß, aber ich lese natürlich nicht mehr alles.
Ich weiß nicht, wann das aufgehört hat, ich lese von den Autoren, deren Romane mich interessieren, sehr gern. Aber die haben – wenn ich es so sagen darf – auf mich keinen Einfluss mehr.
Es gab eine Zeit, da ist das auch sehr deutlich gewesen, da waren meine zwei Hauptlehrmeister, die ich als Leser gebraucht habe, Kafka und Proust. Es hat gedauert bis zum Ende der 50er Jahre, da habe ich lesend noch einfach ganz von selber gelernt, gelernt, gelernt: Ah, der macht das so, der macht das so, der macht das so. Danach hat das wirklich aufgehört.
Es gibt einen, der natürlich sehr früh dabei war bei mir: Nietzsche. Durch irgendwelche Umstände bin ich sehr früh an Zarathustra gekommen. Ein lebenslänglich mich begleitendes Buch. Zarathustra von Nietzsche, weil Nietzsche ist für mich, für mich der größte deutsche Schriftsteller. Und natürlich auch Dostojewski, der ist vielleicht von den Großen der Einzige, den ich immer noch weiter lese. Da will ich nichts mehr, muss ich nichts mehr lernen. Den muss ich einfach lesen.
Aber es ist so, dem Denkenden, dem Intellektuellen sind Leute immer wichtiger geworden wie Nietzsche und Kierkegaard (Sören Kierkegaard, dänischer Philosoph, Essayist, Theologe und Schriftsteller, die Red.). Das hat natürlich Gründe. Um Geld zu verdienen, wurde ich doch da immer wieder nach Amerika eingeladen als Gastprofessor und da musste ich natürlich auch was bieten und da habe ich das geboten, was mir selber am wichtigsten war. Ich habe da Seminare über Ironie gemacht. Und daraus wurde dann auch ein kleines Buch „Selbstbewusstsein und Ironie“.
Das hat dann vielleicht zehn Jahre lang gedauert und dazu habe ich sehr viel Kierkegaard gebraucht, weil Kierkegaard ist der große Meister in der Darstellung dessen, was Ironie sein kann, sein soll. Zehn Jahre lang war Kierkegaard meine Hauptlektüre.
Jetzt sind zwei geblieben, Nietzsche und Platon, das kann ich also endlos lesen. Da bleib ich ein Leser und davon – habe ich auch das Gefühl – profitiere ich auch.
Information: Martin Walser
Festivalprogramm
• 20. April, 19.30 Uhr, Stadthalle: Martin Walser, „Statt etwas oder Der letzte Rank“
• 21. April, 16.00 Uhr, Stadthalle: Paul Maar „Schiefe Märchen und schräge Geschichten“
• 21. April, 19.30 Uhr, Stadthalle: Klaus Peter Wolf, „Ostfriesentod“
• 22. April, 19.30 Uhr, Stadthalle: Bas Böttcher, „Die verkuppelten Worte“
• 23. April, 15.00 Uhr, Stadthalle: Finn-Ole Heinrich, „Frerk der Zwerg“
• 24. April, 10.00 Uhr, Grundschule: Finn-Ole Heinrich, „Die erstaunlichen Abenteuer der Maulina Schmitt“
• 25. April, 10.00 Uhr, Grundschule: Ursula Poznanski, „Elanus“
• 25. April, 19.30 Uhr, Stadthalle: Axel Hacke, „Das kolumnistische Manifest“
• 26. April, 19.30 Uhr, Stadthalle: Heiner Geißler, „Was müsste Luther heute sagen“
• 27. April, 19.30 Uhr Stadthalle: Benedict Wells, „Vom Ende der Einsamkeit“
• 28. April, 19.30 Uhr, Stadthalle: Amelie Fried, „Ich fühle was, was Du nicht fühlst“
• 29. April, 19.30 Uhr, Stadthalle: Fritz Egner, „Mein Leben zwischen Rhythm & Blues“
• 30. April, 15.00 Uhr, Stadthalle: Alexandra Helmig, „Kosmo und Klax“
Karten für alle Veranstaltungen im Rahmen des Literaturfestivals gibt es in der Geschäftsstelle des „Haßfurter Tagblatt“, Brückenstraße 14, in Haßfurt, Tel. 09521/17 14.