
Seit 1987 schon behandelt Dr. Jürgen Welsch in Hofheim die Zahnschmerzen seiner Patienten. Doch nur mit dem Bohrer im Mund anderer zu hantieren, genügte dem gebürtigen Rügheimer nicht. Nur zwei Jahre nach der Praxiseröffnung startete der heute 62-Jährige sein ehrenamtliches Engagement als Beisitzer im Prothetikausschuss Nordbayern. Und seit knapp zwei Monaten ist Jürgen Welsch nun als ehrenamtlicher Richter am Bundessozialgericht in Kassel tätig.
Doch warum verdingt sich ein Zahnarzt nebenbei als "Hobby-Jurist"? Auf Welsch übte die Gesetzgebung offenbar schon immer eine starke Anziehungskraft aus, auch wenn ein Jura-Studium für ihn "nie in Frage kam. Eine reine Schreibtisch-Tätigkeit wäre nichts meine Welt. Aber es hat mich schon immer interessiert, ich habe viel gelesen", so Welsch. Doch als "Gute-Nacht-Lektüre" kann das Sozialgesetzbuch mit mehreren tausend Seiten nicht dienen - es verlangt schon ein besonderes Interesse, sich mit den gesetzlichen Regelungen rund um die Verpflichtungen der kassenärztlichen Versorgung vertraut zu machen. "Meine Erfahrungen in der Zahnarzt-Praxis mit dem geltenden Recht zu verbinden – für mich die ideale Kombination", erklärt der Mediziner sein Faible für dieses Ehrenamt.
Seit 20 Jahren als "Sozialrichter" aktiv
Schon im Jahr 2000 wurde der Hofheimer ans Landessozialgericht nach München berufen, nun also folgte die höchste Stufe, die Berufung ans Bundessozialgericht. Behandelt werden da wie dort "Streitfragen" zwischen Medizinern und der Kassenärztlichen Vereinigung oder den Krankenkassen. Dass Patienten selbst vor die Sozialgerichte ziehen, ist eher die Ausnahme. Meistens dreht es sich in den Verhandlungen natürlich um das liebe Geld. Unterschiedliche Auffassungen über die richtige Abrechnung der erbrachten Leistungen auf dem Zahnarztstuhl landen eben beim Sozialgericht, wenn die "Vorbehandlungen" in entsprechenden Ausschüssen erfolglos geblieben sind. In höchster Instanz wandert so ein Fall dann nach Kassel zum Bundessozialgericht.
Gesetzbücher sind eine staubtrockene Materie und natürlich ebenso komplex wie theoretisch. "Auch deshalb versucht man eben, den Alltag in der Praxis, die Erfahrungen fachlicher Art mit den rechtlichen Inhalten zu kombinieren", begründet Welsch die Zusammenarbeit der ehrenamtlichen Richter aus den Fachbereichen mit den Volljuristen. "Wir Zahnärzte können die juristischen Entscheidungen für den Alltag übersetzen", macht der Hofheimer klar, dass der Unterschied zwischen Theorie und Praxis doch oftmals recht groß ist. Aufgrund seiner langjährigen Erfahrung "weiß ich sehr genau, wo die Stolpersteine liegen", so Welsch.
Interpretationssache
"Die Gesetze lassen immer Interpretationen zu und die Sozialgerichte geben dann die entsprechenden Leitlinien vor. Wenn das Gesetz links und rechts zulässt, entscheiden wir, ob nun eher das linke oder das rechte das richtige ist – ähnlich wie beim Bundesverfassungsgericht." Die Krankenkassen hätten oft eine andere Sichtweise als die Zahnärzte. Sehr oft kommen dabei Vergleiche heraus, wenn ein gesprochenes Urteil zwar rechtlich nicht zu beanstanden, aber augenscheinlich nicht gerecht ist.
Jeder Fall landet zunächst beim Sozialgericht. Da sind ein hauptamtlicher und zwei ehrenamtliche Richter gleichberechtigt zuständig. In der nächsten Instanz, dem Landessozialgericht, ändert sich die Besetzung auf der Richterbank: Da kommen zwei hauptamtliche Richter hinzu. "Da wurde eine ,Bremse' eingebaut, damit die Ehrenamtlichen nicht zu sehr in der Juristerei herumfuhrwerken", schmunzelt der Zahnarzt, der bundesweit einer von acht Zahnärzten ist, die das Bundessozialgericht mit ihrer Expertise unterstützen. "Ich würde mir wünschen, dass die Entscheidungen, die wir treffen, noch viel mehr Praxis- und Alltagsnähe aufweisen als dies heute der Fall ist. Da lässt sich sicherlich manches optimieren", ist Welsch überzeugt, dass die Juristen eben immer nur eine Seite dieser zweiseitigen Medaille im Blick haben können.
Das ehrenamtliche Engagement hat der vierfache Vater vermutlich geerbt. Schon sein Großvater war politisch aktiv, in den 60-er Jahren sogar Landtagsabgeordneter. "Eigenverantwortung war da schon in meiner Kindheit ein Thema. Wir haben schon immer lieber mitgeprägt als über uns bestimmen zu lassen – und das ist ja letztlich der Sinn des Ehrenamtes: Selbst eingreifen und steuern."
Ehrenamt als Verpflichtung
Und das macht Welsch. Ob als Obmann der Zahnärzte im Landkreis Haßberge, im Vorstand des zahnärztlichen Bezirksverbandes oder – von 2008 bis 2011 – als Landesvorsitzender des Zahnarztverbandes in Bayern sowie im Beirat der AOK – und seit Juni eben als ehrenamtlicher Richter im Sozialgericht.
Dass dabei das Familienleben ein klein wenig auf der Strecke geblieben ist, versteht sich fast von selbst. "Meine Hobbys habe ich mittlerweile gegen null gefahren", weiß Welsch, dass Praxisarbeit, Ehrenamt und Familie mehr Zeit beanspruchen, als eigentlich zur Verfügung steht. Und auch die Vergütung für die Arbeit als Richter ist nicht berauschend. "Am Bundessozialgericht lernst Du das Armenrecht kennen", schmunzelt Welsch, mehr als 20 Euro pro Stunde seien da nicht zu erwarten. "Rein finanziell ist das ein Zuschussgeschäft. Das muss man schon aus Überzeugung machen."
Sechs bis acht Mal pro Jahr macht sich der Zahnarzt auf die Reise nach Kassel, um an einem Tag fünf bis acht Fälle zu verhandeln. Hilfreich ist da natürlich, dass Welsch sich seine Praxis mit seinem Kollegen Peter Troll teilt, Wurzelbehandlungen und ähnliches nicht verschoben werden müssen.
Ein Ende der Arbeit in der Praxis und auch der Tätigkeit am Gericht ist aktuell nicht absehbar. "Ich bin 62 und fit. Ein ,Enddatum' habe ich momentan nicht im Kopf", verspricht Dr. Welsch seinen Patienten und auch Klienten auch zukünftig noch nahezu ungebremsten Einsatz.
