
Nein, den kann ich nicht lieben! Der hat mir zu sehr wehgetan!“ Energisch schüttelt sie den Kopf. Mit der Lesung in diesem Sonntagsgottesdienst ist sie ganz und gar nicht einverstanden.
„… dies Gebot haben wir von ihm: Wer Gott liebt, der soll auch seinen Nächsten lieben….“, hört sie den Pfarrer sagen. Sie muss bei diesen Worten an ihren Ex-Ehemann denken, an seine zahlreichen Affären, an die schmutzige Scheidung, an die Tränen, die ihr vorausgegangen sind, und an die Bitterkeit, die sich jetzt in ihr eingenistet hat. Und dann hört sie in der Kirche dieses Bibelwort und ist verzweifelt.
Viele Menschen kann sie lieben, aber nicht alle. Und einen ganz besonders nicht (mehr). „Bin ich jetzt keine gute Christin?“, fragt sie sich. Sie ist sicher nicht die Einzige, die mit dem Gebot der Nächstenliebe Schwierigkeiten hat.
Vielleicht kennen Sie ja auch einen Menschen, bei dem Ihnen die Galle hochkommt? Wo gehobelt wird, da fallen Späne, sagt man. Wo miteinander gelebt wird, wird auch gestritten. Wo miteinander gestritten wird, bleiben Verletzungen oft nicht aus. Türen werden zugeschlagen, Beziehungen gehen zu Bruch und manchmal brechen Herzen.

Das war schon bei den ersten Christen so, und das ist bis heute nicht anders. Was macht es uns so schwer, dem Gebot zu folgen, einander zu lieben?
Vielleicht liegt das daran, dass wir das Wort Liebe mit Sympathie und Zuneigung verwechseln? Ja, die gehört auch zur Liebe, ebenso wie die Schmetterlinge im Bauch des Verliebten.
Die Nächstenliebe geht darüber hinaus. Sie geht tiefer, sie hat mit Wahrnehmung zu tun. Von dem russischen Dichter Fjodor Dostojewski stammt der Satz: „Einen Menschen lieben, heißt, ihn so zu sehen, wie Gott ihn gemeint hat.“
Die Nächstenliebe schaut hinter die Fassaden und Masken und erkennt im Mitmenschen Gottes Geschöpf mit all seinen Bedürfnissen, Ängsten, Nöten, Mängeln und der Sehnsucht nach Zuwendung, nach Hilfe. Von Jesus können wir lernen, genau hinzusehen, den andern wahrzunehmen, wie er wirklich ist.
Wie einfühlsam konnte Jesus sein gegenüber den Menschen, die in Not waren. Die Heuchler aber hat er unerbittlich entlarvt. Die Sünde entstellt uns. Sie sorgt dafür, dass wir nicht mehr so sind, wie Gott uns gemeint hat.
Dann gehört es zur Nächstenliebe, dem andern die Wahrheit zu sagen: „Du hast mir sehr wehgetan! Deshalb kann ich dich nicht mehr lieben.“ Wie heilsam wäre das, wenn auf diese Feststellung noch der Satz folgt: „Vielleicht kann ich dir irgendwann einmal vergeben.“
Vergebung gehört nämlich auch zur Liebe und ebenso die Hoffnung, dass die Menschen wieder einmal so werden, wie Gott sie gemeint hat.