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HAßFURT
Guten Morgen: Das WWW ist so gut und böse wie wir
Martin Sage
 |  aktualisiert: 29.03.2021 10:45 Uhr

Früher war alles besser. Und die Menschen waren anständiger und ehrlicher. Es gibt da ein schönes Beispiel, wie man in die Irre denken kann. Die Antibabypille, die sich seit den 1960-er Jahren zum häufigsten Schwangerschaftsverhütungsmittel entwickelt hat: Die Pille habe die Moral verdorben, beklagten ihre Gegner damals, ein Vorwurf, der heute noch zu hören ist. Doch das ist falsch. Die Pille hat nicht die Moral geändert, sondern die Möglichkeiten. Männer und Frauen hatten vorher keine geringeren Sehnsüchte und Begierden, und auch keinen schwächeren Drang, sie zu erfüllen. Doch nun waren plötzlich die Chancen auf ihre Verwirklichung „ohne Nebenwirkungen“ um ein Vielfaches größer.

Onlinehandel und Schmuddelseiten

Im August 2020 wird die Pille 60 Jahre alt, fast doppelt so alt wie das World Wide Web. Auch beim Internet, das nun also gut 30 Jahre besteht, wird oft die Frage gestellt, ob es die Menschheit besser oder schlechter gemacht hat. Aber auch das WWW hebt weder noch senkt es die Moral – wohinter sich ohnehin ein schwer zu fassender Begriff verbirgt. Es ändert nur, wie jeder technische Fortschritt, die Möglichkeiten. Wer heute online kauft, weil es am günstigsten ist, und damit den Einzelhändler vor Ort ruiniert, hätte das auch vor 50 Jahren getan, wenn es das entsprechende Angebot gegeben hätte. Damals fingen die Discounter an, die Tante-Emma-Läden auszurotten. Und wer heute heimlich und kostenlos Schmuddelseiten im Internet besucht, hatte vor 40 Jahren vielleicht nur nicht den Mut, sich entsprechende Heftchen zu kaufen und sie dann im Schrank zu verstecken – aber doch die gleichen Gelüste.

Facebook ist nicht Dein Freund

Es gibt Menschen auch in den Industrie- und Technologienationen und darunter auch Jüngere, die sich dem Internet und all seinen Errungenschaften verweigern. Weil sie es irgendwie für Teufelszeug halten. Die Mehrheit unserer Zeitgenossen sieht das sicher anders, aber auch bei ihr dürfte seit einigen Jahren ein Erkenntnisprozess eingesetzt haben: Die Euphorie, mit der uns vor allem das Silicon Valley infiziert hat, dass nämlich das Internet den ganzen Globus in ein Paradies verwandeln und alle menschlichen Wesen zu ziemlich besten Freunden machen würde, erweist sich als Illusion. Heute wissen wir: Facebook ist nicht dein Freund, sondern ein Unternehmen, das Geld verdienen will. Und das auch darf, nur dass wir als Kunden einen viel kritischeren Abstand zu „Was machst Du gerade?“ halten müssen als wir das am Anfang gedacht haben.

Schwarz und weiß – und alles dazwischen

Aber es geht ja viel weiter: Das Internet verändert den Menschen nicht in die eine oder andere Richtung, es spiegelt ihn nur in all seinen bekannten guten und schlechten Eigenschaften wider. Es ermöglicht freie Meinungsäußerung ebenso wie Bedrohung und Einschüchterung. Das Internet bringt die ungeschminkte Wahrheit ans Licht und lügt wie gedruckt. Es bietet geschützten Raum und lässt Opfer völlig gläsern und nackt erscheinen. Es schont Ressourcen und hilft bei der Plünderung der letzten Rohstoffe. Es steuert lebensnotwendige Apparaturen mit nie dagewesener Präzision und bietet Hackern aus tausenden Kilometern Entfernung Zugriff auf die Zentralen von Kraftwerken. Es führt Forschung und Wissenschaft in neue Dimensionen und teilt das Wissen möglicherweise mit der ganzen Welt, hält aber ebenso gut Teile der Menschheit von der Aufklärung fern.

Ein Werkzeug wie tausende zuvor

30 Jahre Internet haben uns Fortschritt beschert, auf den zu verzichten blanker Unsinn wäre. Es gibt keinen Grund zur Enttäuschung, nur zur nüchternen Erkenntnis: WWW und Co. geben dem Menschen ein Werkzeug in die Hand, das er nutzen kann wie der Homo sapiens jedes Werkzeug zuvor: zum Wohl oder Wehe von sich und anderen. Wohin der Ausschlag geht, lässt sich oft erst viel später erkennen.

 
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