„Raps ist nicht gleich Raps“ sagt Rudi Ruß und hält dem Reporter zwei Fruchtstände vor die Nase: Der eine überreif, der andere grün, beide vom selben Acker. Unterschiedliche Reifegrade bei der Ernte mindern Qualität und Erlös. Doch das Schlimmste ist: Das Rapsfeld südlich des Sander Baggersees besteht jetzt, Anfang Juli, fast nur aus mannshohem Unkraut. Schuld an der Misere hier wie auf vielen Flurstücken in der Umgebung sind die Wildgänse.
Sie haben sich im Frühjahr die jungen Rapspflänzchen schmecken lassen; an manchen Stellen ist der Raps nachgeschossen, zeigt sich aber nun reifeverzögert. Wo der Kahlschlag perfekt war, hat sich Unkraut ausgebreitet. „Eigentlich kann der Landwirt mit dem Acker nichts mehr anfangen“, sagt Ruß, der Obmann des Bauernverbandes in der Gemeinde Sand ist. Weil 100 Prozent Ernteverlust unglaubwürdig klingt, steht auf dem Erfassungsbogen „90 Prozent“.
Ruß war dieser Tage mit dem Unterhohenrieder Winfried Löhr in der Sander Flur unterwegs, um die Schäden zu schätzen, die Kanada-, Nil- und Graugänse am Raps, an Gerste, Weizen oder Triticale angerichtet haben. Löhr ist vereidigter Gutachter des Bauernverbandes. Seine Schätzung gilt. Wildgänse lieben die Äcker in der Nähe des Fließgewässers Main, seiner Altarme und Baggerseen. Das büßen die Bauern, die hier Boden haben. Wer Glück im Unglück hat, dem frisst das Federvieh zehn Prozent vom Acker, wer Pech hat, verliert 90 Prozent.
„Die sind wie ein Rasenmäher“, beschreibt Landwirt Matthias Rippstein die Plage. Im Frühjahr ist ein Schwarm über einen seiner Äcker am Nordrand des Sander Baggersee hergefallen. Eine neben der anderen haben die Gänse den ufernahen Streifen des Winterweizenfeldes kahl geschnäbelt. Zwar ist der Brotweizen nachgeschossen, doch auch der Laie erkennt am mickrigen Wuchs, wo die Gänse wüteten. 15 Prozent Verlust hat Schätzer Löhr für den Schlag vermerkt. Schon einmal, im Februar, hat sich Löhr angeschaut, wie es um die Sander Felder bestellt ist. „Die Schäden haben sich seither nicht dramatisch erhöht“, fasst Rudi Ruß das Ergebnis beider Begehungen zusammen und liefert die Erklärung dazu: Wenn im März die Phase des starken Pflanzenwachstums beginnt, meiden die ungeliebten Besucher die Äcker. Dann nämlich könnten sich Fuchs oder Marder im Getreide verstecken; und die hochschießenden Halme würden die Vögel am Starten, mithin an der Flucht hindern.
Niemand weiß genau, wie viele Wildgänse es mittlerweile im Maintal zwischen Bamberg und Haßfurt gibt, das seit Frühjahr 2015 Modellregion für Wildgans-Management ist. Es könnten 400 Tiere sein, vielleicht 800. Alle Beobachter glauben zu wissen, dass die Bestände wachsen. „Wo die Populationsgrenze liegt, können wir nicht absehen“, sagt Christian Wagner, promovierter Biologe im Sachgebiet „Kulturlandschaft und Landschaftsentwicklung“ der Bayerischen Landesanstalt für Landwirtschaft in Freising. Wagner ist Projektmanager des Wildgans-Managements im Maintal, zu dem sich Landwirte, Jäger, Naturschützer, Verwaltung und Politik zusammengeschlossen haben. „Vertreiben aus dem Maintal können wir die Viecher nicht mehr“, ist sich ein Landwirt bewusst. Management bedeutet, einen Kompromiss zu finden, mit dem alle Seiten, auch die Tiere, zurechtkommen.
Was Rudi Ruß, den seine Landwirte als unermüdlichen Kämpfer gegen die Wildgans-Plage rühmen, sehr wohl weiß ist, dass die Verbissschäden bei Sand nach oben schnellen. Vor fünf oder sechs Jahren, als die Wasservögel „noch vereinzelt und nicht als Rasenmäher auftraten“, wie es Matthias Rippstein ausdrückt, erreichte die vom Gutachter bestätigte Gesamtschadenssumme 5000 Euro. 2014 waren es 25 000 Euro, „und heuer wird es nicht weniger“, erklärt Ruß. Der steile Anstieg hat auch damit zu tun, dass die Gänse zunehmend Geschmack an Sonderkulturen wie Gelbe oder Zuckerrübe finden. „Die entwickeln sich immer mehr zu Feinschmeckern“, hat Matthias Rippstein beobachtet.
Rudi Ruß hat deshalb klare Forderungen: Zum einen verlangt er, dass den Landwirten die Schäden nicht nur in halber Höhe ersetzt werden, wie es augenblicklich der Fall ist, sondern vollumfänglich. So sei es ja auch beim Biber. Immerhin haben es die Betroffenen im Maintal erreicht, dass Schäden ab einer Höhe von 2500 und nicht erst ab 5000 Euro anerkannt werden. Und dieser Betrag muss nicht in einer Saison auftreten, er kann sich innerhalb von fünf Jahren aufsummieren.
Vor allem aber hofft Ruß auf eine Ausdehnung der Jagdzeit. Bisher dürfen Jäger vom 1. August bis 15. Januar auf Wildgänse anlegen. Ruß hält es für unerlässlich, die Jagd ganzjährig zuzulassen oder zumindest auf das Frühjahr auszudehnen. Gegen März kommen die Wasservögel in Scharen aus ihren Überwinterungsquartieren zurück; am besten wäre es, einzugreifen, bevor sich dann die Brutpaare finden, meint Ruß. „Dass eine Gans beschossen wird, die Junge hat, möchte ich nicht“. Ebenso wenig schätzt er die niederländische Variante der Bekämpfung. Hier fängt man Jungtiere, die noch nicht fliegen können und erwachsene Gänse, die während der Mauser flugunfähig sind ein, und vergast sie in Containern mit Kohlenstoffdioxid.
Humaner scheint das „Eistechen“, die Zerstörung der Eier im Gelege also, eine Methode, auf die Ruß allerdings keine große Hoffnungen setzt. Denn dazu muss man die gut versteckten Nester finden. Wildgänse nisten gerne auf den für Raubtiere unzugänglichen Inseln der Flussaltarme und Baggerseen; viele dieser Inselchen dürfen aber nicht betreten werden, weil der Naturschutz das verbietet. Und so sind auch keinesfalls eben mal so landschaftsgestalterische Maßnahmen gestattet wie die Beseitigung der Flachwasserufer, auf die Windgänse mit Jungen angewiesen sind, oder die Schaffung einer Verbindung zwischen Insel und Festland und sei es nur über einen Baumstamm, wie man es jetzt im Sander Baggersee erprobt. Der Stamm schlägt dem Fuchs eine Brücke zu frischen Eiern oder Gänseküken. Man könnte Zäune oder Drähte spannen oder Gebüsch anpflanzen, aber alle diese Maßnahmen sind aufwendig und irgendwer muss sie bezahlen.
Dr. Christian Wagner betont, dass es unbedingt notwendig ist, eine Strategie zu entwickeln, um die Konflikte mit den Gänsen zu minimieren. „Es wird ein ganzes Bündel an Maßnahmen nötig sein, die an verschiedenen Hebeln ansetzen“, erklärt der Experte. In den nächsten Sitzungen der Management-Gruppe will er klären, welche Aktionen auf den Brutinseln möglich sind. Was die Ausdehnung der Jagd anbelangt, ist er skeptisch, weil das Jagdrecht nur schwer Ausnahmen zulässt. Und bislang fehlt die Vermarktungskette, die die erlegten Vögel einer sinnvollen Verwertung zuführen würde. Das Eistechen will der Biologe auf alle Fälle probieren: Der Kampf gegen die Wildgänse geht also weiter, und die Suche nach der besten Strategie ebenfalls.
Ansätze zur Wildgans-Bekämpfung
• Jagd: Statt bisher zwischen August und Januar wünscht sich Rudi Ruß eine ganzjährige Bejagung;
• Gelegebehandlung: Aufsuchen der Nester und „Anstechen“ entweder aller oder einer bestimmten Zahl der Eier;
• Landschaftsbau: Wildgänse brüten in der Nähe von Flachwasserzonen bevorzugt auf Inseln. Und sie halten sich stets in der Nähe von Gewässern auf, zu denen sie freie Sicht und ungehinderten Rückzug brauchen. Das Schaffen von Steilufern oder Anlegen von Hecken oder Zäunen kann sie von Flächen fernhalten. Durch die Verbindung der Brutinseln mit dem Festland bekommen die natürlichen Feinde der Wildgänse Zutritt zu den Gelegen und können Jungtiere jagen.