Die Geschichte des Films ist so einfach wie die Mittel, mit denen er entstanden ist. Eine syrische Familie flieht vor Krieg, Gewalt und Tod nach Deutschland, in eine ungewisse Zukunft. Um diese Story als Film umzusetzen, benötigten Leonie Kröner und Charlotte Kühnel an Requisiten nicht mehr als das, was ein Schreibtisch bietet: Papier, Schere, Filzstift, Tesafilm. Doch die Art und Weise, wie die beiden Eberner Gymnasiastinnen ihre Idee umsetzten, überzeugte die Jury des deutsch-französischen Filmwettbewerbs „Jufinale“. Sie kürte die beiden zu den Preisträgerinnen in der Kategorie „Originalität“.
Der Erfolg kam überraschend
Mit so einem Erfolg hatten die Schülerinnen der Q12 des Eberner Gymnasiums nicht gerechnet. „Wir waren völlig aus dem Häuschen, als wir von dem Preis erfahren haben“, sagen sie. Wegen einer Seminararbeit hatten sie nicht mitfahren können nach Bayeux. In der nordfranzösischen Stadt, im Département Calvados, der Partnerregion des Bezirks Unterfranken, entschied sich in den Herbstferien, welche der gut 70 eingereichten Filme von jungen deutschen und französischen Filmemachern im Rahmen der 24. „Jufinale“ Auszeichnungen erhielten. Sieben der zehn Preise gingen nach Unterfranken, darunter auch der Hauptpreis für den Film „Hanna“ der Gruppe „ABgedrehtFilm“ aus Aschaffenburg.
Film entstand für Kunstprojekt
Der Beitrag „Wenn Zuhause nicht mehr Heimat ist“ von Leonie Kröner und Charlotte Kühnel war zunächst gar nicht für den Wettbewerb gedacht. Die 17 und 18 Jahre alten Schülerinnen aus Ebern haben den Film für ein Projekt im Kunstunterricht gedreht. Erst später, als der Film den Mitschülern aus den Kunstkursen am Gymnasium gezeigt worden ist, ermutigte eine Lehrerin die beiden, den Film doch bei einem Wettbewerb einzureichen. Dabei hatten die beiden bereits während der Dreharbeiten gemerkt: Der Film ist für sie mehr als nur ein schulischer Leistungsnachweis. „Wir haben viel, viel mehr Arbeit reingesteckt als nötig“, sagt Leonie Kröner. „Mit der Zeit ist es unser Film geworden.“
Fiktive Geschichte
Dies hängt mit dem Thema zusammen. Über die Schülermitverwaltung (SMV) des Gymnasiums haben die Jugendlichen Flüchtlingskinder betreut, die die Eberner Mittelschule besuchen. Dabei erfuhren sie auch von den Schicksalen der jungen Syrer. Dennoch ist die Geschichte ihres Films fiktiv, berichten sie. In ihr vermengen sich jedoch Nachrichten aus Syrien mit Erlebnissen, die ihnen Menschen erzählt haben, die von dort geflohen sind. Hinzu kommt: Nach über fünf Jahren blutigen Bürgerkriegs weiß quasi jeder, welches Drama sich in dem Land im Nahen Osten abspielt. Zugleich drohen Menschen hierzulande abzustumpfen und zu vergessen, wie die Menschen in Syrien in dem unübersichtlichen Konflikt Tag für Tag leiden.
Fluchtgeschichte in drei Minuten
Wohl genau deshalb berührt der Film der jungen Frauen aus Ebern seine Zuschauer. Ohne Spezialeffekte und verzweigte Erzählstränge schildert er in gut drei Minuten die Flucht der Familie Zeno, mit einfachsten Mitteln. Sechs bemalte Finger stellen die sechs Köpfe der Familie dar: Sohn Nadin (14), Mutter Enes (29), Tochter Selma (7), Onkel Samir (41), Vater Ilias (38) und Sohn Yasin (12).
Obwohl keiner von diesen außerhalb des Films eine reale Gestalt hat, tauchen im Kopf des Zuschauers unwillkürlich Gesichter auf. Vor dem inneren Auge ergänzen Bilder von Kriegsopfern, die im Internet und im Fernsehen täglich zu sehen sind, die Bilder des Films.
Schüsse und Klaviermusik
Auch weitere Szenen erzeugen unmittelbare Eindrücke, die weit über das hinausgehen, was der Film zeigt: als Selma bei einer Bombenexplosion stirbt, Onkel Samir in der Ägäis ertrinkt oder die Polizei die Flüchtenden auf dem Balkan schikaniert. Der Schüsse, die sich in einer Szene in die Klaviermusik mischen, die im Hintergrund des Films läuft, hätte es gar nicht bedurft. Das Kopfkino springt beim Zuschauer auch so an. Die Distanz zum Filmgeschehen löst sich auf.
Zeichensprache, die jeder versteht
Um ihre Geschichte vor der Kamera in Bilder zu übersetzen, reduzieren die Filmemacherinnen ihre Hilfsmittel aufs Nötigste. Ein aufgeschlagener Atlas zeigt die Fluchtroute, Zeichnungen auf Papierstückchen, die ins Bild geschoben werden und wieder verschwinden, stellen Personen und Ereignisse dar. Es dominiert eine Zeichensprache, die jeder versteht, ohne dass ein Wort gesprochen wird.
Minimalistisch auch der Drehort: Als Filmstudio diente der mit weißem Papier ausgelegte und von Lampen beleuchtete Boden eines Zimmers. Zwei Tage brauchten sie für den Film. Beim Schneiden der Filmsequenzen am Computer half ihnen ein Freund.
Simpel ist hier richtig gut
Eltern, Freunde und Lehrer bekamen erst den fertigen Film zu sehen, verraten Leonie Kröner und Charlotte Kühnel. Es war ihr erstes Filmprojekt zu zweit. Zuvor hatten sie mit anderen Schülern aus der SMV Erklärfilme produziert, in denen sie zum Beispiel beschreiben, wie das Schulsystem funktioniert, „alles ganz simple Filme“, sagen sie. Jetzt wissen sie: Simpel muss nicht schlecht sein. Im Gegenteil.
Film soll in der Aufklärungsarbeit eingesetzt werden
Das findet auch Lambert Zumbrägel vom Bezirksjugendring. Als er in Ebern den mit 100 Euro dotierten Preis an die Gymnasiastinnen überreichte, kündigte er an, deren Film in der Aufklärung zur Arbeit der Flüchtlingshilfe einzusetzen – weil in diesem jeder sofort versteht, worum es geht. „Die Reduktion des Films“, sagt er, „ist sensationell.
“ In dieselbe Richtung zielte die Jury der „Jufinale“, als sie den Eberner Filmbeitrag würdigte: „Die Klarheit der Worte, die Menschlichkeit und die Einfachheit und Bescheidenheit der Mittel haben die Jury überzeugt“, hieß es da.
Professionelles Filmemachen ist nicht ihr Ziel
Macht so viel Lob nicht Lust auf mehr? Nicht unbedingt, meinen Leonie Kröner und Charlotte Kühnel. Beide haben Lust, weiter nebenbei zu filmen, beispielsweise, um die Ergebnisse in der Jugendarbeit einzusetzen. Doch sie sind sich einig: „Wir möchten keine Filmemacher werden.“ Eigentlich schade.