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Er liebt Märchen – und stellt sie auf den Kopf
Der Schriftsteller Paul Maar (Mitte), flankiert von den Musikern Konrad Haas (links) und Wolfgang Stute (rechts), die mit ihm das „Schiefe Märchen-Trio“ bilden.
Foto: Veranstaltungsservice Bamberg | Der Schriftsteller Paul Maar (Mitte), flankiert von den Musikern Konrad Haas (links) und Wolfgang Stute (rechts), die mit ihm das „Schiefe Märchen-Trio“ bilden.
Das Interview führte Martin Sage
 |  aktualisiert: 15.12.2020 15:11 Uhr

Paul Maar ist einer der bekanntesten Autoren im deutschsprachigen Raum. Und im Haßbergkreis muss man den 79-Jährigen ohnehin nicht vorstellen: Maar kam in Schweinfurt zur Welt, verbrachte einen Teil seiner Kindheit in Theres und wohnt heute in Bamberg. Das HT hat mit über Fantasie, Erzählkunst und Märchen gesprochen – mit Blick auf sein neuestes Buch „Schiefe Märchen und schräge Geschichten“, aus dem Paul Maar in Haßfurt lesen wird.

HT: Lieber Herr Maar, verraten Sie uns, ob Sie Skateboard fahren können? Ihr „gestiefelte Skater“ aus „Schiefe Märchen...“ beherrscht das Skaten ja perfekt - und Sie als sein Erfinder kennen zumindest die wichtigsten Skater-Begriffe?

Paul Maar: Im Internet lese ich gerade nach, dass das Skateboard in den 60-er Jahren in Kalifornien erfunden wurde, aber erst in den 80-er Jahren in Deutschland populär wurde. Ende der 80-er Jahre hatte ich bereits meinen 50. Geburtstag hinter mir und war damit ein wenig zu alt fürs Skateboard-Fahren. Mein Musiker-Freund Simon Michael, mit dem ich eine Kinderlieder-CD gemacht habe („Wenn das Faultier Tango tanzt“) kennt sich mit dem Skateboarden aus. Außerdem habe ich natürlich „Skateboard“ gegoogelt und mir zahllose Videos angeschaut, in denen die Skateboard-Tricks nicht nur erklärt, sondern auch gezeigt wurden.

Sie vollenden in nicht allzu weiter Ferne Ihr 80. Lebensjahr. Es ist bestimmt keine böswillige Unterstellung, wenn man behauptet, dass viele Männer und Frauen Ihrer Generation keine Smartphones verwenden oder mit Laptops nichts anfangen können. Sie aber lassen Hänsel und Gretel in Ihrem jüngsten Buch wie selbstverständlich zum Handy greifen, nur dass die beiden dummerweise kein Netz im Wald haben. Wie modern müssen Märchen denn sein? Oder anders ausgedrückt: Können unsere uralten Märchen überhaupt noch so erzählt werden, wie vor 50, 100 oder 200 Jahren?

Erst mal zur Unterstellung, dass Menschen meiner Generation weder Smartphone noch Laptop beherrschen: Ich kenne in meinem – etwa gleich alten – Bekanntenkreis niemanden, den ich nicht auf dem Handy anrufen oder dem ich keine E-Mail senden kann. Unsere Generation hat schnell nachgelernt.

Dann zur Frage, ob man alte Märchen noch so nacherzählen kann wie vor hundert Jahren. Ich finde: Man kann sie nicht nur so nacherzählen, man sollte es auf jeden Fall tun. Ich hatte als Kind kaum Bücher und mein größter Schatz war ein Buch mit Grimms Märchen, in dem ich fast täglich las. Die Märchen waren mir Trost und Hilfe in schwierigen Lebenssituationen. Noch heute sind mir die „Sprüche“ aus diesen Märchen geläufig, etwa „Was macht mein Kind, was macht mein Reh? Jetzt komm ich noch zweimal, dann nimmermehr.“ Ich finde, dass man die Sprache der Märchen nicht modernisieren darf. So ein wuchtiges, altertümliches Wort wie „nimmermehr“ ist viel endgültiger und bedeutsamer, als wenn ich sage: „Dann komme ich nicht wieder.“

Meine Liebe zum Märchen zeigt sich auch in meinem Werk. Ich denke da an meine Theaterstücke „Der stumme Prinz“ oder „Das Wasser des Lebens“ oder an das im letzten Herbst erschienene Bilderbuch „Greta und die magischen Steine“. Sie alle sind den alten Märchen verpflichtet, nehmen sie ernst und atmen deren Geist. Nicht erst seit Bettelheims „Kinder brauchen Märchen“ weiß man, wie wichtig die untergründigen Botschaften und Symbole des Märchens sind. Meine Wertschätzung der Grimm?schen Märchen hat nicht zuletzt dazu geführt, dass ich im letzten Jahr die Grimm-Professur an der Universität Kassel inne hatte.

Unsere bekannten Märchen sind ja nicht bloß Erzählgeschichten. Rapunzel, Hänsel und Gretel, Schneewittchen sind, wenn man Neil MacGregor ("Germany - Memories of a Nation", 2015) glauben darf, Ausdruck kollektiver Ängste, Wünsche, Hoffnungen und Erfahrungen der Deutschen. Was bedeutet es da, wenn Sie Erwachsenen und Kindern diese alten, meist bitterernsten Märchen mit einem Augenzwinkern neu zu erzählen: Macht es einfach nur Spaß, Rumpelstilzchen und Co ein wenig zu veralbern, oder ist es für Sie an der Zeit, den zum Teil harten Stoff mit Humor auf neue Art zu bewältigen?

Eine Abschweifung zu Ihrem Hinweis auf Neil MacGregors Buch, das ich noch nicht kenne und bestimmt lesen werde: Die These, dass die Märchen ein Ausdruck kollektiver Ängste und Erfahrungen der Deutschen sein sollen, finde ich nicht recht plausibel. Bei meiner Professur in Kassel habe ich mich mit Spezialisten der Märchenforschung ausgetauscht und etwa gelernt, dass viele der Grimmschen Märchen schon hundert Jahre vorher in einer Märchensammlung des Italieners Basile aufgeschrieben wurden und dass etliche Märchen in Frankreich entstanden sind und von Hugenotten-Familien nach Deutschland importiert wurden und so der Grimmschen „Märchenfrau“ zu Ohren kamen. Ganz davon abgesehen, dass der russische Philologe Propp nachweist, dass bestimmt Märchenmotive schon in der Antike bekannt waren und es etwa eine indische Fassung des „Hänsel und Gretel“-Motivs gab.

Wenn ich hier also von meiner Wertschätzung der alten Märchen und ihrer Sprache berichte, dann – muss ich zugeben – kann man sich wundern, wie ich ein Buch „Schiefe Märchen und schrägen Geschichten“ verfassen konnte.

Beginne ich zur Erklärung mit einem Sprichwort: „Was sich liebt, das neckt sich“. Und was ist mein spielerischer Umgang mit Märchenmotiven nichts anderes als eine Neckerei? Ich liebe die Märchen und es macht mir großen Spaß, sie auf den Kopf zu stellen. Schon in meinem ersten Buch „Der tätowierte Hund“ erzählt eine Hexe ihre Sicht auf die Geschichte vom bösen Hänsel, der bösen Gretel und der Hexe.

Ich kann Beispiele aus der Bildenden Kunst anführen, etwa Picassos Lithographien zu Lukas Cranach, oder aus der Musik, wo viele Jazzmusiker Themen klassischer Musik in eine neue Form überführen. Etwa wenn Dave Brubeck Mozarts türkischen Marsch in seinem „Blue Rondo a la turk“ zitiert. Weder Picasso noch Brubeck verachten ihre Vorbilder, sondern schätzen sie und gehen doch spielerisch damit um.

Ein weiteres Beispiel aus „Schiefe Märchen und schräge Geschichten“: Auch Ihr „Märchen vom farbigen Licht“ greift ein beliebtes Motiv auf: Ein Vater hat mehrere Söhne und die ziehen nacheinander aus, um ein Abenteuer zu bestehen. Doch das Geheimnis, das der jüngste Sohn, der „Dümmling“, schließlich lüftet, beweist vor allem – und wenig rühmlich – das Hinterwäldlertum der Familie. Ist es dennoch eine „Heldengeschichte“? Welche Botschaft hat sie für junge und alte Leser?

Da wollte ich eigentlich nur ein bestbekanntes Märchenmotiv variieren: Die Großen schaffen es nicht und der gering geschätzte jüngste Bruder, der Dummling oder der Däumling ist dann erfolgreich. Wenn man schon eine Botschaft hineininterpretieren mag, dann die, dass man an sich selbst glauben, den eigenen Kräften vertrauen und sich nicht von der abschätzigen Einstellung seiner Umgebung beeinflussen lassen soll.

Neben dem Aufgreifen alter Märchenmotive bringen Sie in Ihrem jüngsten Werk auch ganz neue, eigene Geschichten. Da ist zum Beispiel der goldene Föhn, der durch Feenspruch zum Telefon wird und der ausrangierte Ofen, der es bis ins Kino schafft, wo er sich den Film "Coole Jungs auf ihren heißen Öfen" anschaut. Der Leser macht einen Ausflug ins Reich des Fantastischen. Was ist für Sie eigentlich schwieriger: Die Fantasie für all diese Geschichten aufzubringen - oder Ihre Fantasie so zu zügeln, dass noch etwas Erzählbares und Verstehbares dabei herauskommt?

Es ist eher Letzteres. Manchmal bin ich zu ausschweifend, kann meine Fantasie kaum zügeln und muss in einem zweiten oder dritten Arbeitsgang die Geschichte kürzen und in eine gut lesbare Form bringen.

Der Bub Konrad in der Geschichte „Frau Muhse“ ist intelligent und für außergewöhnlich gebildet, aber eines kann er sehr zum Leidwesen seiner Eltern nicht: Geschichten erzählen. Schließlich lernt er es doch: im Haus von Frau Muhse. Was meinen Sie: Hat jeder Mensch das Talent zum Geschichtenerzählen oder doch nur wenige Auserwählte wie Sie?

Der Bub Konrad wird ja von seinen Eltern zu Kalliope, der antiken Muse der Dichtkunst geschickt. Nur wenig verfremdet erkennt sie der Leser in der griechisch aussehenden alten Frau, die auf den Namen Frau Muhse hört und in der Kalliope-Straße wohnt. Konrad hat zwar ein enormes Faktenwissen, aber es fehlt ihm an Fantasie. Kalliope konfrontiert ihn mit dem Absurden, das durch sein Wissen nicht erklärbar ist: Er geht in einem einstöckigen Haus hunderte von Stufen nach oben und findet sich unten wieder, die Sprache wird verfremdet, er erlebt unerklärliche Dinge – all das kann sein Faktenwissen nicht erklären. Er lässt sich auf seine Fantasie ein und wird zum Erzähler.

Es gibt einen Aufsatz von Walter Benjamin, den ich oft zitiere. Er trägt den Titel „Mit der Kunst des Erzählens geht es zu Ende“. Darin beklagt sich der Verfasser: „Immer seltener wird die Begegnung mit Leuten, welche rechtschaffen etwas erzählen können.“ Es scheint tatsächlich so zu sein, dass die Fähigkeit Geschichten zu erzählen durch die modernen Medien schwindet. Wir lassen uns im Fernsehen Geschichten vorführen, erzählen aber immer seltener selbst welche.

In "Schiefe Märchen ..." veröffentlichen Sie auch eine ganze Reihe Gedichte, die Sie zusammen mit den Musikern Wolfgang Stute und Konrad Haas vertont haben. Zusammen sind Sie als das "Schiefe Märchen Trio" unterwegs und bieten Lesungen mit Musik wahlweise für Kinder oder Erwachsene. Wie kam es dazu – und wie sind die Erfahrungen mit dem Trio?

Die Musiker Konrad Haas und Wolfgang Stute kenne ich aus der Zeit, als sie am Bamberger E.T.A. Hoffmann-Theater als MD, als musikalische Leiter, engagiert waren. Beide haben Musiken zu meinen Theaterstücken komponiert, Konrad Haas etwa zum Stück „In einem tiefen, dunklen Wald“, in dem ich mich auf ironische Weise mit den Grimm?schen Märchen auseinandersetze. Als ich sie fragte, ob sie mit mir zusammen die Schiefen Märchen gestalten wollten, waren sie sofort dabei. Und damit es nicht eine stereotype Abfolge Musik-Geschichte-Musik wird, habe ich für unseren gemeinsamen Auftritt einige Lieder geschrieben, die im Buch nicht vorhanden sind und die wir gemeinsam singen. Außerdem habe ich dafür gesorgt, dass die Musiker nicht untätig daneben sitzen, während ich eine Geschichte vortrage, indem ich ihnen kleine Sprechrollen zugewiesen habe. Unsere Premiere war am Schlossparktheater in Berlin vor mehr als 500 begeisterten Zuhörern und in den Vorstellungen danach stellten wir immer zufrieden fest, dass sowohl Kinder als auch Erwachsene ihren Spaß hatten.

Auf unserer Ausgabe Ihres neuen Buches klebt groß und rot und rund der Aufkleber: „Neues vom Sams Autor“: Das ist gewissermaßen ein Qualitätssiegel, und wir gehen davon aus, dass es auch dem Verkauf des Buches gut tut. Andererseits: Haben Sie manchmal das Gefühl, etwas zu sehr auf den „Papa Sams“ reduziert zu werden?

Ja, mein Verlag ist wohl der Meinung, dass der gewöhnliche Leser mit dem Namen „Paul Maar“ nichts verbindet, und schmückt alle meine Bücher mit diesem Aufkleber. Es ist tatsächlich so, dass ich oft etwas verstimmt reagiere und sage: „Ich habe aber auch noch 40 andere Bücher geschrieben!“, wenn ich wie üblich bei einer Lesung in einer Buchhandlung, Bibliothek oder Schule so vorgestellt werde: „Und hier kommt der Sams-Autor!“

Auch wir wollen noch einmal auf das Sams zurückkommen, das so viele Kinder in Ihren Büchern oder im Kino lieben gelernt haben. Jetzt im Fasching sieht man viele Kinder (zumindest in der Region) als Sams verkleidet: Sie hauchen Ihrem berühmten Fabelwesen damit neues und eigenes Leben ein. Was empfindet man denn, wenn man so eine berühmte Figur geschaffen hat und die Fans diese Figur nach ihren eigenen Ideen und Wünschen weiterentwickeln? Haben Sie das Gefühl, dass das Sams noch Ihnen gehört?

Ich habe immer noch das Gefühl, dass das Sams meine Figur ist und bleibt, freue mich aber, wenn ich mitkriege, wie sehr die Kinder diese Figur weiterentwickeln. In den vielen Kinderbriefen, die ich bekomme, erzählen mir die Leser eigene Samsgeschichten oder machen mir Vorschläge, wohin ich das Sams noch schicken könne.

Als letzte Frage eine Bitte: Können Sie Eltern drei Gründe nennen, warum Sie ihren Kindern Gute-Nacht-Geschichten vorlesen sollten?

Erstens: Goethe schreibt, das Erzählen sei „die Mutter des Lesens“. In unserer Zeit ist es wichtig, dass die Kinder Spaß am Lesen bekommen. Ohne dass sie Geschichten erst mal kennen, wird es bei ihnen kein Bedürfnis geben, welche im Buch zu lesen. Zweitens: Dadurch, dass sich ein Erwachsener Zeit nimmt und sich ganz dem Kind beim Erzählen zuwendet, entsteht eine dichte emotionale Verbindung zwischen dem erzählenden Erwachsenen und dem zuhörenden Kind. Drittens: Geschichten schulen das Sprachvermögen, die Fantasie und die emotionale Intelligenz, also das Vermögen, sich in andere Figuren und Situationen einzufühlen.

 
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