
Helmut Will ist ein viel gefragter Mann. Seit 1998 betreibt er ehrenamtliches Engagement für die Opferschutzorganisation Weißer Ring, seit Mai 2013 war er für einige Jahre zusätzlich Berater des sogenannten Ergänzenden Hilfesystems (EHS). Ehrenämter lagen ihm seit jeher im Blut: 13 Jahre war Will Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei Kreisgruppe Ebern, fünf Jahre Redaktionsbeirat für die Zeitschrift "Bayerns Polizei", und auch in seinem Wohnort Unterpreppach hat er sich beim Sportverein engagiert. Doch demnächst tritt der 73-Jährige von all seinen Ehrenämtern zurück.
Gemütlich sitzt Will auf seiner Terrasse bei einer Tasse Kaffee. Seine Frau Anita ist mit Gartenarbeit beschäftigt, und Enkel Felix springt zwischen den beiden Hin und Her. Wenn es überall auf der Welt so harmonisch zuginge, hätte Will mehr Zeit mit seiner Familie verbringen können, doch das Leben hatte für ihn offensichtlich einen anderen Plan.
Die Sorge um die Betroffenen blieb
Als junger Polizist, berichtet Will, oblag es ihm, Delikte aufzunehmen, deren Verlauf möglichst lückenlos nachzuvollziehen, und das Erfahrene penibel auf Papier festzuhalten. Während die Wege der Täterinnen und Täter zumeist bereits vorgezeichnet waren, erklärt der 73-Jährige, hätte er die Betroffenen nach der Befragung einfach wieder verabschiedet. Beruflich sei diese Vorgehensweise völlig in Ordnung gewesen. Doch dem Menschen Helmut Will sei ins Herz gestochen, welch gebrochenen Eindruck hierbei so mancher Gesprächspartner hinterließ.
"Also begann ich, die Opfer am Ende der Anhörung nach ihrem Befinden zu fragen", erklärt Will. Das sei oft eine Offenbarung gewesen. Die Menschen erzählten, und Will hörte zu. Einige Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner seien innerhalb weniger Minuten zu anderen Menschen geworden, schildert er seine Erfahrungen. Sie hätten danach aufrecht, zuversichtlich, und offensichtlich erleichtert das Amtsgebäude verlassen.
Leid könne Leben zerstören
Und er, der emphatische Zuhörer in Uniform, habe zunehmend ein Bild davon bekommen, welch einen bisher nicht beachteten Umfang Konflikte haben können. Ebenso habe er die Erfahrung gemacht, dass das Leid, welches zwar durch die Juristerei gesühnt, bei den Betroffenen aber nicht behoben wurde, Menschenleben zerstören kann.

Eduard Zimmermann war zu dieser Zeit Fernsehmoderator, der junge Polizist Will faszinierter Zuschauer der Sendung Aktenzeichen X Y ungelöst. Von Zimmermann konnte er sich eine Scheibe abschneiden. Auch er bekümmerte sich ob der gesellschaftlichen Defizite bei der Deliktverarbeitung und gründete den Weißen Ring, eine Organisation, welche sich bundesweit dem unbürokratischen Opferschutz verschrieb.
Viele Fälle auf dem Schreibtisch
Will stieg ein. Im Durchschnitt 15 bis 30 Fälle pro Jahr lagen zu Hause auf seinem Schreibtisch. Er erkannte Strukturen, reagierte, organisierte. Seine Unterstützungsansätze wurden gezielter. Als ihm genügend Mittel zur Verfügung standen, um einer von häuslicher Gewalt gezeichneten Frau 300 Deutsche Mark in die Hand zu drücken, war deren Reaktion: "Endlich kann ich meinen Kindern wieder einmal ein richtig gutes Mittagessen bereiten."
Mord, sexueller Missbrauch und häusliche Gewalt begleiteten den Polizisten nun auch in seiner Freizeit. Und er stieß an Grenzen, denen er den Kampf ansagte. Für Therapiegelder, die verwehrt wurden, fand Will neue Fördertöpfe, beispielsweise das "ergänzende Hilfesystem". Es wurde vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend ins Leben gerufen und verfolgt das Ziel, nach sexualisierter Gewalt Folgebeeinträchtigungen abzumildern.
Im Leben viel erlebt
Psychische Stabilität sei dabei unabdingbar gewesen, berichtet Will. Doch auch Konflikte auf der Arbeit hätten sich aufgetan, wenn dem "Weißen Kreuz Will" in vertraulichen Gesprächen Abläufe zu Ohren kamen, die der "Polizist Will", offiziell zur Kenntnis genommen, sofort hätte bearbeiten müssen.
Müde sei er geworden, bekennt er im Gespräch mit der Redaktion. Er habe sehr viel erlebt: einen gesellschaftlichen Wandel, der es Opfern leichter macht, gehört zu werden, eine Gesellschaft, die zunehmend bereit sei, Straftaten aus mehreren Perspektiven zu beleuchten, und Familienstrukturen, welche zunehmend Missbrauchstendenzen im Keim ersticken. Und doch sei die Zukunft nicht nur rosig: Gerade das Internet berge für jüngere Personen Gefahren – beispielsweise durch Mobbing.

Helmut Will ist froh, sein Werk nun bald in jüngere Hände geben zu können. Sein Fahrrad ist aufgepumpt, sein Enkelkind Felix hat Ferien. Nun stehen Kurzreisen an, Zeit zum Zurücklehnen, und um das Leben, die Familie und die Region in vollen Zügen zu genießen.