In unserer Erinnerung spielt der Erste Weltkrieg kaum noch eine große Rolle. „Im Schulbuch kommt er gleich nach Napoleon und sieht auch so aus“, sagte Horst Hofmann zur Einführung in den Vortrag von Professor Herfried Münkler. Heute werde die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg zu einem großen Teil durch den Zweiten Weltkrieg überdeckt, so Hofmann.
Der Politikwissenschaftler Münkler gilt derzeit als einer der bedeutendsten Experten für den „Großen Krieg“. Zu Beginn zeigte er sich beeindruckt, als er in den gut besuchten Großen Saal der Stadthalle blickte: „Bei dieser Einwohnerzahl hätte ich nicht mit so vielen Besuchern gerechnet.“ Er berichtete unter anderem, der Erste Weltkrieg sei der erste Krieg in der Geschichte gewesen, bei dem mehr Menschen durch den Feind getötet wurden, als durch Seuchen, Erschöpfung und Geschlechtskrankheiten. Aufgrund der hohen Zahl an Menschen, die nach einer ärztlichen Behandlung wieder einsatzfähig waren, bezeichnete er Lazarette und Psychiatrien als „Recyclinganlagen“, die den langen Krieg überhaupt erst möglich gemacht hatten. „Erst durch den technischen und medizinischen Fortschritt wurde der Krieg zu diesem großen Krieg.“
Immer wieder zog er Parallelen zwischen den damaligen Ereignissen und der heutigen Weltpolitik. Damals habe es grundsätzlich drei Konflikte gegeben, die zusammen den Krieg ausgelöst hatten. Der erste habe sich um die Hegemonie in Europa gedreht. Dieser Konflikt sei heute durch die Deutsch-Französische Freundschaft entschärft. „Europa funktioniert, so lange die deutsch-französische Achse funktioniert“, resümierte er.
Als zweiten großen Konflikt nannte er die Frage um die Weltordnung, der vor allem zwischen Deutschland und Großbritannien ausgetragen wurde. So haben Niedergangsängste eine große Rolle gespielt, die Handlungen seien also nicht immer rational gewesen. Als dritte Dimension nennt Münkler den Osten. Die entscheidende Frage sei hier gewesen: Werden die großen Reiche als Vielvölkerstaaten mit verschiedenen Kulturen und Sprachen auch im 20. Jahrhundert bestehen, oder setzen sich kleinere Nationalstaaten durch? Dieser Konflikt habe zum Attentat von Sarajevo geführt, das schließlich auch den Krieg auslöste.„Die ersten beiden Punkte spielen heute keine große Rolle mehr, aber der dritte ist auch heute noch da“, sagte Münkler, und betonte auch, dass gerade dieser Punkt der letzte Auslöser des Krieges war.
Nach seinen Ausführungen über die Probleme, die zum Krieg führten, analysierte der Professor einige Fragen zum Verlauf des Krieges und dazu, warum es nicht möglich war, die Konflikte ohne Gewalt zu lösen. So sei ein großes Problem gewesen, dass deutsche Generäle, allen voran Erich Ludendorff, eine Heeresvergrößerung anstrebten, diese nicht im gewünschten Ausmaß durchsetzen konnten, jedoch mit ansehen mussten, wie andere Länder stärker wurden. So sei es im Generalstab zu der Ansicht gekommen, es müsse einen Krieg besser früher als später geben, so lange man ihn noch gewinnen könne.
Reichskanzler Bethmann habe zwar lange Zeit geschafft, diese Entwicklung zu bremsen. Dies habe allerdings aufgehört, als der Kanzler das Vertrauen in die britischen Politiker verlor. Entgegen der bekannten These, Bethmann habe den Krieg absichtlich provoziert, sagte Münkler: „Bethmann weist die Angebote nicht zurück, weil er den Krieg will, sondern weil er den Briten nicht mehr vertraut.“
Der Krieg dauerte bis 1918, obwohl, so Münkler, bereits im Herbst 1914 alle Pläne der Kriegsparteien gescheitert waren. „Die meisten Leute glauben, im Krieg wäre der Feind das Problem“, sagte er. „Aber eigentlich ist der Verbündete das Problem.“ Denn während man beim Gegner wisse, woran man ist, wisse man bei den Verbündeten nie, ob sie nicht irgendwelche Verhandlungen führen oder einen Separatfrieden aushandeln. „Es gilt die Mikadoregel: Wer zuerst zuckt, hat verloren.“
Auch auf die Motivation und das Verhalten der Soldaten ging der Professor in seinem Vortrag ein. So sprach er sowohl über Kampfstreiks mancher Soldaten, als auch über die Gründe anderer, weiterzukämpfen. So seien die Toten sakrifiziert worden, die Kameraden kämpften also auch „für unsere Gefallenen“. Auf die Frage eines Besuchers, wie es möglich sei, dass Menschen aus verschiedenen christlichen Nationen sich trotz des gemeinsamen Glaubens gegenseitig bekämpften, antwortete Münkler: „Man darf beim Christentum eben nicht nur an Margot Käßmann denken.“ So seien auch viele Pfarrer verschiedener Konfessionen, ebenso wie viele jüdische Rabbiner, glühende Patrioten gewesen. „Letztlich war die Nationale Idee allen anderen Ideen überlegen“, begründete er, warum auch Ideologien wie Religionen und Sozialismus den Krieg nicht verhinderten.
Kurz sprach er auch über den „Weihnachtsfrieden“, in dem Soldaten, die sich eigentlich bekämpfen sollten, die Waffen niederlegten und gemeinsam feierten. „Das zeigt, dass die Soldaten ein professionelles Verhältnis zum Krieg hatten, sie kämpften nicht aus Hass“, lautete Münklers Fazit aus der kurzen Waffenruhe.
Verhängnisvoll sei nach dem Krieg besonders ein Gedanke gewesen, der sich ab den 20-er Jahren immer mehr durchsetzte: „Eigentlich waren wir besser!“ Münkler zog hier einen Vergleich zu Fußballern, die nach einem Spiel, das sie durch einen Glückstreffer des Gegners verloren hatten, oft den gleichen Gedanken haben und einer Revanche entgegenfiebern. Ähnlich verhalte es sich auch bei Soldaten nach einem verlorenen Krieg. So sei es kein Zufall, dass viele niedrigere Offiziere des Ersten Weltkrieges später als Generäle unter Hitler hofften, diese Revanche zu bekommen.