
Gerade in den letzten Tagen des alten Jahres war oft der Satz zu hören und zu lesen: „2016, es reicht!“ Tatsächlich stimmen die Nachrichten, die in diesem Jahr durch die Medien geisterten, nicht besonders hoffnungsvoll. In vielen Ländern der Welt sind populistische Parteien mit radikalen Ideen bei Wahlen erfolgreich. Auch in Deutschland legen die Rechtspopulisten in Umfragen und Wahlen zu, die Spaltung der Gesellschaft scheint immer größer zu werden, die Menschen immer unversöhnlicher. In der Weltmacht USA wurde ein Mann zum Präsidenten gewählt, den viele für gefährlich und unberechenbar halten. 2016 war auch das Jahr des „Brexit“, also des ersten Austritts einer europäischen Nation aus der EU. Das gemeinsame europäische Friedensprojekt hat seinen ersten großen Riss bekommen.
Dazu kam kurz vor Weihnachten der Anschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt – der islamistische Terror ist endgültig auch in Deutschland angekommen. Und schließlich wurde in diesem Jahr das Wort vom „postfaktischen Zeitalter“ geprägt. Menschen gelingt es, andere Menschen zu manipulieren, obwohl ihre Aussagen nachweislich gezielte Lügen sind. 2016 als unbefriedigendes Jahr zu bezeichnen, wäre ein ziemlicher Euphemismus.
Nun stellt sich die Frage, wie wir auf all diese beängstigenden Entwicklungen reagieren sollen. Ob wir für mehr Sicherheit irgendwelche Freiheiten aufgeben müssen, wird vielerorts heiß diskutiert. Doch es gibt noch eine andere Debatte. Einen Vorwurf an die freiheitlich demokratische Welt, der in den Medien kaum diskutiert wird, in Kommentaren in den Sozialen Netzwerken aber eine große Rolle spielt: Sind wir, die wir für Toleranz kämpfen, selbst intolerant?
Gerade in den letzten Monaten des scheidenden Jahres war dieser Vorwurf oft zu hören. Rechtspopulisten wettern gerne, „Gutmenschen“, die die Wahlerfolge der AfD als besorgniserregend bezeichnen, zeigten damit, dass sie nicht die Vorzeigedemokraten sind, als die sie sich gerne sehen. Das ist zwar absoluter Blödsinn, denn demokratisch gewählt zu sein bedeutet ja nicht, dass man sich von der Opposition keine Kritik mehr anhören muss. Doch offenbar sehen die Populisten schon allein in der Kritik ihrer Ideen eine Verschwörung, in der die „Altparteien“ und die „Lügenpresse“ sie gemeinsam fertig machen wollen. Ähnliches hört und liest man im englischsprachigen Netz derzeit von Trump-Anhängern.
Wir stehen erstmals seit 1945 vor einer neuen Situation. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs war klar, dass in der „westlichen Welt“ Politiker regieren würden, die man als Demokrat und Menschenrechtler zumindest akzeptieren konnte. Der CSU wird ein Wahlsieg der SPD ebenso wenig gefallen wie den Sozialdemokraten ein Sieg der Union. Aber so viel man sich gegenseitig kritisiert: Beide Seiten können voneinander anerkennen, dass sie auf dem Boden des Grundgesetzes stehen und keine Feinde der Demokratie sind.
Genau diese Art von Anerkennung als „Gegner auf Augenhöhe“, als Repräsentanten einer anderen vertretbaren Position innerhalb des breiten demokratischen Spektrums, fordern nun auch die Populisten für sich ein. Aber haben sie diese auch verdient? Muss ein Demokrat wirklich jede abweichende Meinung respektieren? Jeden populistischen Spruch tolerieren, weil er von einer Partei stammt, die in einer Wahl Stimmen bekommen hat?
Nein, denn auch die Toleranz gegenüber anderen Meinungen darf und sollte ihre Grenzen haben, nämlich an der Stelle, an der irgendjemand einem anderen Menschen oder einer Gruppe von Menschen die Menschenwürde absprechen will. Stellen Sie sich einmal vor, ein Christ, ein Muslim und ein Atheist diskutieren über die Frage, ob es einen Gott gibt und welche Eigenschaften dieser hat. Im Idealfall kann das eine interessante Unterhaltung in freundschaftlichem Rahmen werden, aus der jeder etwas mitnimmt. Keiner muss die Meinung der anderen teilen, aber jeder sollte sie akzeptieren.
Jetzt stellen Sie sich vor, zu unserer kleinen Runde gesellen sich drei weitere Personen: Ein amerikanischer Tea-Party–Anhänger, der in den USA einen christlichen Gottesstaat errichten will, ein IS-Terrorist und ein Atheist kommunistischer Prägung, der Religionen verbieten oder zumindest diskriminieren möchte. Nun sind wir bei denjenigen fremden Meinungen angelangt, die wir nicht mehr akzeptieren müssen – die wir nicht einmal akzeptieren sollten.
Dann stellt sich aber die Frage, wie unsere drei Freunde vom Anfang reagieren werden. Stehen sie zusammen? Kämpfen sie gemeinsam gegen den Extremismus von allen Seiten? Oder lassen sie sich von den Rattenfängern ihrer jeweiligen Seite „einfangen“? Wahrscheinlich haben unsere drei Freunde miteinander mehr gemeinsam, als jeder von ihnen mit seinen eigenen radikalen Gesinnungsgenossen. Es bleibt aber zu hoffen, dass sie das auch erkennen und dass keiner von ihnen „umfällt“.
Die gleichen Fragen stellen sich auch im Umgang mit radikalen politischen Standpunkten. Werden die gemäßigten Parteien zusammenstehen? Raufen sich die „Vernünftigen“, von der Union bis zu den Linken, zusammen, um den Populisten die Stirn zu bieten? Oder werden sie es zulassen, dass radikale Parteien die gemäßigteren als „Starthelfer“ missbrauchen? Deutschland war schon einmal in dieser Situation. Damals, 1933, haben die Demokraten einen schweren Fehler gemacht, der sich nicht wiederholen darf.
Traurig ist, dass eine Radikalisierung auf der einen Seite oft eine Radikalisierung auf der anderen Seite zur Folge hat. Terror liefert den Rechtspopulisten Zündstoff bei ihrer Hetze gegen den Islam. Je mehr Menschen sich davon fangen lassen, desto mehr fühlen sich die Muslime von der Gesellschaft ausgeschlossen, was wiederum einen größeren Zulauf für die Islamisten mit sich bringt. Gearbeitet wird auf beiden Seiten mit Lügen und Übertreibungen – postfaktisch eben.
Unsere Aufgabe wird es sein, Haltung zu zeigen. Haltung gegen radikale Ideen, egal aus welcher Richtung sie kommen. Gerade in diesen Zeiten ist es wichtig, dass diejenigen von uns, denen die Einhaltung der Menschenrechte ein wichtiges Anliegen ist, eher ihre Gemeinsamkeiten in den Vordergrund stellen, als ihre Unterschiede. Eine weitere Aufgabe wird es sein, Aussagen wieder besser auf ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Lügen müssen wieder als solche enttarnt werden.
Was die Lehren aus dem Jahr 2016 sind, dürfen uns nicht die Feinde eines friedlichen Zusammenlebens diktieren. Vielmehr sollten wir mit der Erkenntnis in das Jahr 2017 starten, dass es noch nicht zu spät ist, eine Spaltung der Gesellschaft aufzuhalten. Aber nicht, indem wir uns zurücklehnen und andere sprechen lassen. Die Zeiten, in denen man sich bei Wahlen aus der Verantwortung stehlen konnte, sind vorbei. Um unsere Demokratie und unsere Freiheit gegen ihre Feinde zu verteidigen, werden wir in Zukunft jede einzelne Stimme brauchen. 2017 wird ein Jahr sein, in dem wichtige Weichen für die Zukunft gestellt werden. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein glückliches neues Jahr.