Das weihnachtliche Thema der „Herbergssuche“ bekam in den vergangenen Jahren für viele Kommunen tatsächlich ein Gesicht. Frauen und Männer aus Syrien, Afghanistan und zahlreichen anderen Ländern hatten oft einen weiten und gefahrvollen Weg hinter sich gebracht und waren auf der Suche nach einer neuen Herberge. In Kirchlauter haben sich in den vergangenen Wochen vor allem ältere Mitbürgerinnen mit solchen Asylbewerbern unterhalten. Dabei erinnerten sie sich auch daran, wie Heimatvertriebene aus den deutschen Ostgebieten im Jahre 1946 zur Herbergssuche in Kirchlauter aufschlugen.
Seniorenleiter Peter Kirchner hatte ins Schwarze getroffen, als er kürzlich zum Seniorennachmittag als Überraschungsgäste zwei Asylbewerber vorstellte. Kirchner wollte in einem Gespräch seinen älteren Mitbürgern zu Hintergrundwissen verhelfen, aber auch auf menschliche Schicksale aufmerksam machen. Der Weg des 22-jährigen Mohammad nach Deutschland hatte drei Monate gedauert. Der Syrer war zuvor vom IS entführt worden, um Geld für den Krieg zu erzwingen. Abdalmoin kam wegen des Krieges nach Deutschland und spricht offen von Heimweh. „Ich wäre gerne wieder in Syrien, wenn die Situation dort nicht so schlimm wäre und weil dort meine Familie ist.“ Nun ist er auf der Suche nach einer Unterkunft.
Je länger man sich mit den jungen Asylanten unterhielt, umso mehr kam den 70- und 80-jährigen Senioren auch der Gedanke an die Nachkriegszeit in Erinnerung, als im Jahre 1946 Heimatvertriebene, vorwiegend aus Tschechien, nach Kirchlauter kamen und dort wirklich auf „Herbergssuche“ waren. Einige der Senioren waren selbst Heimatvertriebene, anderen kamen Namen und Geschichten in Erinnerung, wie schwer es auch damals war, eine Wohnung für sich und seine Kinder oder seine Familie zu finden. Der Vergleich mit Josef und Maria bei der Herbergssuche in Bethlehem kam dabei einigen in den Sinn.
Dies ließ einige Kirchlauterer Senioren in der Vorweihnachtszeit nicht ruhen und so trugen sie in schwierigen Recherchen zusammen, wie diese „Herbergssuche“ der Heimatvertriebenen damals verlaufen war. Erzählungen einiger Zeitzeugen wollte man den jüngeren Generationen und der Nachwelt erhalten. In einem Gesprächskreis hatte Peter Kirchner deswegen seine „Brunna-Mädla“ zusammengerufen, die bemerkenswerte Vorarbeit geleistet hatten. Außerdem standen mit dem 90-jährigen Herbert Lang, jetzt in Pfarrweisach wohnend, Adolf Hufnagl aus Ebelsbach, Maria Röhner, geb. Waschka und Kathi Kaiser, geb. Korath auch ehemalige Vertriebene zu diesem Gespräch zur Verfügung.
Wie die Kirchlauterer Namensliste aussagte, wurden in dieses 520-Einwohner-Dorf im Jahre 1946 tatsächlich 110 Heimatvertriebene aufgenommen. „Heute ist kein einziger Asylbewerber hier bei uns und es gibt keinen einzigen Flüchtling. Und wie wird manchmal über die Flüchtlinge bei uns geredet, dass die uns das christliche Abendland fertig machen“, meinte Kirchner dazu.
Ein Großteil der Heimatvertriebenen in Kirchlauter kam aus Tschechien, vor allem aus dem Ort Kleinschüttüber. „Am 2. Mai 1946 mussten wir innerhalb zwölf Stunden Haus, Hof und Grundbesitz verlassen und durften höchstens 50 Kilogramm Gepäck mitnehmen. Wir wurden bewacht und mit Armbinden vom Lager zum Zug getrieben. Sechs bis sieben Familien wurden in einen Waggon gepfercht“, erinnerte sich Adolf Hufnagl. Die Fahrt ging nach Eger und über Schirnding und Wiesau, wo die Entlausung stattfand, nach Schweinfurt. Mit einem Waggon ging es über Bamberg nach Ebern und ins Lager Fierst. Dort mussten die Vertriebenen einige Tage ausharren, bis sie auf die Ortschaften verteilt wurden.
Die Heimatvertriebenen aus Kleinschüttüber waren mit fünf oder sechs Familien am 9. Mai 1946 in Kirchlauter angekommen und versuchten mit Hilfe des Bürgermeisters Peter Kirchner, dem Großvater des heutigen Altbürgermeisters Peter Kirchner, eine Bleibe zu finden. „Mit Mühe und Not waren doch alle untergekommen, bevor es Nacht wurde. Das war die Realität jener Zeit nach dem Krieg mit Verlust von Haus, Hof und Grundbesitz“, sagt Herbert Lang.
Die Hufnagls waren ebenfalls im Lager in Fierst gelandet. Dort holte sie ein Kirchlauterer namens Adolf Schmitt mit dem Auto ab. Er war „Handlungsreisender in Sachen Schweine“ oder anders ausgedrückt „Säuhöök“ und war einer der wenigen Kirchlauterer, die damals schon ein Auto hatten. Auf dem Dorfplatz in Kirchlauter wurden die Neuankömmlinge aufgeteilt. „Wir waren die Letzten: meine Mutter und ihre drei Kinder“, erzählt Adolf Hufnagl. „An dem Haus, in das wir rein sollten, war aber die Tür verschlossen. Wir kamen dann doch mit Polizeischutz rein“, erinnert er sich heute. Vier Wochen wohnte die Familie dort. „Dann ham sa unner Bündel einfach raus vor die Tür gstellt“. Die Bewohner hätten gesagt, sie müssten ihren Boden rausreißen.
Bürgermeister Kirchner wurde informiert. Für ihn war klar, dass es mit diesem Quartier keinen Sinn hatte. Darauf habe Kirchner gesagt „kommt rauf zu uns“. So kam die Familie zum Bürgermeister. „Dort haben wir die Stube rechts vom Eingang bekommen und sie mit Decken abgeteilt“, erinnert sich Hufnagl an die beengten Verhältnisse. Später zog die Familie zu den Weidners und schließlich ins Schwesternhaus um, ehe man 1958 nach Ebelsbach übersiedelte.
Ludwina Heckelmann stammt aus einer Schuster-Familie und wusste zu berichten, dass man eigentlich einen jungen Burschen für die Werkstatt bekommen wollte. Zugeteilt wurde den Heckelmanns stattdessen aber „a klans Frala, das ganz armselig dagstanden war“.
Ludwina Heckelmann, Margarete Rottmund, Karola Wild, Maria Röhner und Kathi Kaiser sprechen bei dem Treffen auch die große Not an, die nach dem Krieg im Dorf herrschte. Auch manche Einheimische hätten nicht mehr zu kauen gehabt als die ankommenden Heimatvertriebenen. Alle waren ausgehungert und hätten sich riesig über einen geschenkten Laib Brot gefreut. „Und trotzdem haben sie ihr letztes Zimmer hergegeben.“
Von guten Herbergseltern spricht auch Herbert Lang: „Bei der Familie Simon Röhner wurde ich wie ein Familienmitglied aufgenommen, was ich nie vergessen werde. Sohn Emil wurde mein bester Freund in der schweren Zeit als Heimatvertriebener. Bayern ist mir so zur zweiten Heimat geworden.“ Und auch die Integration gelang. Die einen spielten bald in der Theatergruppe mit, andere betätigten sich sportlich bei den Fußballern und in der Faustballmannschaft. Auch die Blaskapelle „Harmonie“ aus Ebelsbach sei in dieser Zeit entstanden. Dirigent Winter selbst stammte aus dem Egerland und habe bei dem bekannten Musiker, Dirigenten und Komponisten Ernst Mosch gespielt. Die Heimatvertriebenen machten sich also nützlich. „Alle Arbeiten in der Landwirtschaft konnten wir aus eigener Erfahrung perfekt erledigen. Deswegen halfen wir in der Erntezeit überall mit und leisteten darüber hinaus viele Hilfsarbeiten“, sagt Herbert Lang.
Das kleine Kirchlauter hat also damals fast ein Viertel seiner Einwohnerzahl in die „Herbergen“ des Dorfes aufgenommen und ist damit gut gefahren. Viele jüngere Kirchlauterer wissen vermutlich gar nicht, dass es sich bei den Familien Konhäuser, Götz, Hufnagl oder Lang um Heimatvertriebene handelt. Die Kirchlauterer haben vor 71 Jahren viel Herz und Nächstenliebe gezeigt.