Gehört der Islam zu Deutschland? Es erscheint bemerkenswert, dass unser Land diese Frage diskutiert, aber kaum Gedanken daran verschwendet, welche Rolle nichtreligiöse Menschen in und für die Gesellschaft spielen. Die Heimatzeitung hat mit Michael Bauer gesprochen, dem Vorstand des Humanistischen Verbandes Bayern.
Ja, manche halten uns irrtümlich für eine Vereinigung von Lateinlehrern. Wir verstehen Humanismus als eine Art, das Leben zu führen, selbstbestimmt, verantwortungsbewusst und solidarisch mit anderen. Bei uns ist üblicherweise damit auch verbunden, der Vernunft und der Wissenschaft einen hohen Stellenwert einzuräumen und auf religiöse Bezüge zu verzichten. Gegründet wurde unsere Organisation 1848, wir blicken also auf eine gewisse Tradition zurück.
Die historische Wahrheit ist nun mal, dass die christlichen Kirchen in der europäischen Geschichte keine Agenten der Freiheit und der Toleranz waren. Im Gegenteil, freiheitliches und demokratisches Denken musste sich gegen diese Formationen durchsetzen. Religionen haben es an sich, dass sie nicht verkünden: Du kannst auch etwas anderes oder gar nichts glauben. Das fällt ja schon den christlichen Konfessionen untereinander schwer. Insofern war die Emanzipation der Menschen von religiösen Denkstrukturen und Machtgefügen die Voraussetzung für die offene, tolerante Gesellschaft in der wir heute – glücklicherweise – leben.
Andererseits erlebe ich heute viele Menschen, für die ihr Glaube wichtig ist, und die sich für Freiheit und Toleranz einsetzen. Denken Sie nur an das Engagement vieler Christen in der Flüchtlingskrise. Religion kann die Triebfeder von vielem sein, von großartigem mitfühlendem Engagement und ebenso von Kriegen und Terror. Religion ist eine zutiefst emotionale, manchmal leidenschaftliche Angelegenheit. Es ist daher die Aufgabe der Gesellschaft, Religion in den aufgeklärten, demokratischen und säkularen Rechtsstaat positiv zu integrieren und, wenn man so will, zu zivilisieren. Das ist übrigens heute ganz besonders wichtig, damit wir mit der gestiegenen Vielfalt der Bekenntnisse bei uns gut zurechtkommen.
Unsere Mitglieder verstehen sich als nichtreligiöse Menschen, als Atheisten, Agnostiker, Freidenker, Freigeister. Der Humanistische Verband ist eine Gemeinschaft mit einem weltanschaulichen Standpunkt, aber ohne ihn allen anderen überhelfen zu wollen. Als Verband sind wir in vielen fachlichen und politischen Zusammenhängen im Dialog mit Religionsvertretern. Das ist mal einfacher und mal schwieriger, aber miteinander reden muss man immer. Das gehört zu unserer Zivilisation.
Naja, das kommt darauf an, wie Sie Humanismus definieren, und auch darauf, was für Sie einen „guten Christen“ ausmacht. Humanismus ist ein schillernder Begriff. In unserem, weltanschaulichen Sinn wird sich das mit einer streng gläubigen Weltsicht schwer vereinbaren lassen. Wenn man mit Humanismus nur das allgemein Menschliche meint und mit „guter Christ“ die populären Passagen aus der Bergpredigt, dann mag das schon zusammengehen.
Leider gibt es solche Stimmen, je fundamentalistischer die jeweilige Religionsinterpretation wird, umso öfter. Das gilt für Christen wie für Muslime. Aber es ist heute so, dass das fundamentalistische oder extremistische Christentum politisch nicht mehr sehr wirksam ist. Anders ist es mit dem Islam. In politisch stark muslimisch geprägten Ländern ist es sehr schwer, offen als Atheist oder Agnostiker zu leben. In vielen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens ist Atheismus ganz offiziell mit schweren Strafen bedroht, oft auch mit der Todesstrafe, ebenso der Abfall vom Glauben oder die Lästerung Gottes oder seines Propheten. Diese Gesetze stehen nicht nur auf dem Papier, sie werden auch angewandt. Dazu kommen Aktionen Einzelner oder von Gruppen gegen agnostische oder atheistische Menschen außerhalb der Gesetze oder über sie hinaus. Leider hat die Bundesregierung diese Verfolgungen aus religiösem Hass noch nicht als Flucht- und Asylgrund ausreichend auf dem Schirm, sondern konzentriert sich recht einseitig auf verfolgte Christen. Ich will dieses Phänomen nicht kleinreden, aber es gibt eben auch andere, ebenso gravierende Probleme. Details dazu kann man im „Freedom of Thought Report“ online nachlesen, der jedes Jahr von unserer internationalen Dachorganisation, der International Humanist and Ethical Union, herausgegeben wird. Da sieht man sehr übersichtlich, wie bedroht die negative Religionsfreiheit auf der Welt ist.
Die Nichtreligiösen sind so etwas wie eine unsichtbare Mehrheit. Unsereins macht ja nicht viel Getöse, wir läuten keine Glocken, haben keinen Gebetsruf, tragen keine auffälligen Trachten, schon gar nicht haben wir imposante Gebäude in der Innenstadt. Unsere Symbole hängen nicht in Gerichten und Schulzimmern. Das führt manchmal zum Trugschluss, dass es uns gar nicht gäbe, wir also keine interessante Zielgruppe für einen Sender wären. Zum anderen betrachten es viele Menschen als Tabu, mindestens aber als etwas unhöflich, die religiösen Überzeugungen des anderen kritisch zu diskutieren. Für das Fernsehen ist so etwas deshalb thematisch heikel. Außerdem darf man nicht vergessen, dass die Fernseh- und Rundfunkräte mit Vertretern der Kirchen üppig besetzt sind.
Das Bundesverfassungsgericht hat dies kritisiert, und einige Länder haben die Zusammensetzung inzwischen geändert. In NRW gibt es seit Neuestem deshalb auch eine Vertreterin der nichtreligiösen Menschen im Rundfunkrat. In Bayern wird derartiges bei der Reform des BR bisher nicht angestrebt, jedenfalls nicht von der CSU. Schade, aber auch diese Partei wird irgendwann begreifen, dass sie mit ihrer einseitigen Religionspolitik auf Dauer keinen Blumentopf gewinnen wird.
Die Rundfunkräte haben großen Einfluss auf das Programm und die Auswahl des leitenden journalistischen Personals. Entsprechend findet man in den öffentlich-rechtlichen Medien unter den Spitzenverantwortlichen auffällig viele, die eine ausgewiesene kirchliche Bindung haben. Die Leiterin des ZDF-Hauptstadtstudios ist studierte katholische Theologin, der Chefredakteur des ZDF ist Mitglied im Zentralkomitee der Katholiken, ebenso die Programmdirektorin des rbb, um nur wenige Beispiele zu nennen. Bei vielen angesehenen Printmedien ist diese Verquickung ebenso feststellbar. Man muss das nicht überbewerten, aber unterbewerten sollte man es auch nicht. Außerdem gibt es dort die Kirchenredaktionen, die sich oft eher wie eine Außenstelle kirchlicher Öffentlichkeitsarbeit verhalten und sich weniger als kritische journalistische Redaktionen zu verstehen scheinen, die sich thematisch mit Religion und Weltanschauung in ihren Facetten und Problemen befassen. Dazu kommt, dass die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften im Rundfunk das gesetzliche Recht haben, Verkündigungssendungen in Fernsehen und Hörfunk ausstrahlen zu lassen. Das sind nicht nur Gottesdienste, sondern auch Magazine. Übrigens hat auch der Humanistische Verband eine solche Sendung zugestanden bekommen, auf Bayern 2 sonntags am frühen Morgen, 14 Minuten einmal im Quartal. Die Produktionskosten zahlen wir selber.
Diejenigen, die von ihr betroffen sind, machen sich sehr wohl darüber Gedanken. Nehmen Sie das kirchliche Arbeitsrecht, das nichtreligiöse Menschen von einem Arbeitsplatz bei Diakonie und Caritas ausschließt. Warum ist das ein Problem? Die christlichen Wohlfahrtsbetriebe sind mit dem Ausbau des Sozialstaats zu den größten Arbeitgebern Deutschlands aufgestiegen. Obwohl ihre Leistungen nicht etwa durch Kirchensteuern, sondern durch allgemeine Steuer- und Versichertenbeiträge refinanziert werden, gilt dort ein diskriminierendes Sonderarbeitsrecht. In vielen Regionen sind kirchliche Träger – oft unterstützt durch eine falsche Auswahlpolitik der Kommunen – zu Monopolisten bei sozialen Angeboten geworden. Das ist eine Perversion des an sich guten Subsidiaritätgedankens. Eine atheistische Sozialpädagogin kann nicht in einer Caritas-Suchtberatungsstelle arbeiten, obwohl diese Stelle von der Kommune aus Steuermitteln finanziert wird. Ein Therapeut verliert seine Stelle in einer diakonischen Behinderten-Fördereinrichtung, wenn er aus der Kirche austritt, obwohl der Bezirk dafür aufkommt. Eine humanistische Erzieherin in einer kirchlichen Kita muss gegen ihre Überzeugung mit den Kindern beten und Gottesdienste vorbereiten, weil sie sonst in ihrer Gegend keinen Job bekommen kann. Mit ihrem Arbeitsrecht und ihrer Marktmacht zwingen die Kirchen Menschen zu Lüge und Heuchelei. Beispiele dafür gibt es viele. Wir haben eine Beratungsstelle eingerichtet, mit der wir Betroffenen zur Seite stehen.
Denken Sie aber auch an die Seelsorge in Krankenhäusern, bei der Bundeswehr und in Gefängnissen – alles, teilweise zu 100 Prozent mit Steuergeldern auch von Atheisten finanziert, aber verfügbar exklusiv nur für Christen. Nichtreligiöse Menschen haben aber ebenso Anspruch auf Beratung und Austausch mit einem Menschen, der auf ihrer Wellenlänge ist, wenn es ums Eingemachte geht, in Krisen etwa oder am Ende des Lebens. Wir sind nicht „nichts“, sondern haben unsere eigenen Werte und Lebensvorstellungen. Da geht es um weltanschauliche Identität und einen authentischen Gesprächspartner. Ebenso wie für religiöse Menschen reicht auch für uns ein irgendwie gepolter klinischer Psychologe nicht aus. Humanismus ist schließlich keine geistige Fehlstellung, die wegtherapiert werden müsste.
Nehmen Sie den Werteunterricht an den Schulen. Für Gläubige gibt es den voll ausgebauten Religionsunterricht, für uns das dürre Ersatzfach Ethik, ein Fach ohne Standpunkt, unterrichtet oft von religiösen Lehrern mit Schmalspurausbildung für das Fach. Die verpflichtende Belehrung mit staatlich festgelegten Werten in einem „neutralen“ Unterricht – kein Christ würde sich so etwas als Ersatz für seinen Religionsunterricht bieten lassen. Auch hier wollen wir Gleichberechtigung, also ein eigenes, humanistisch gegründetes Wertefach, für alle, die es für sich wünschen. In Berlin und Brandenburg gibt es das schon, dort heißt es „Humanistische Lebenskunde“ und steht mit über 50 000 Schülern auf Platz 1 der Wertefächer. Und das, obwohl der Besuch freiwillig ist.
Sie haben Recht, nur meckern reicht nicht. Wir wollen diese Angebote rechtlich durchsetzen und auch praktisch organisieren. In den letzten Jahren haben wir deshalb 18 Kindertagesstätten in Bayern eröffnet, wir bauen gerade ein Netz für Humanistische Feiern auf, Namensfeiern, Trauungsfeiern, Jugendfeiern, planen Hospizarbeit und anderes. Das ist ein langwieriger und mühsamer Weg, denn wir haben dafür kaum Unterstützung durch die Politik, im Gegenteil. Unsere private Humanistische Grundschule in Fürth mussten wir gegen die Staatsregierung bis zum Bundesverwaltungsgericht durchklagen, auch bei anderen Forderungen wird es wohl nur über die Gerichte gehen. Das kostet viel Geld und braucht Ressourcen, also geht es nur Stück für Stück. Aber wir lassen nicht locker, und der Erfolg gibt uns recht. Vor 15 Jahren hatten wir 6 Mitarbeiter, jetzt sind es knapp 300. Das wird schon. Unter www.reformation2017.jetzt findet man unsere Forderungen zusammengefasst. Wer mitmachen will, ist willkommen.
Die Trennung von Staat und Kirche ist eine Debatte aus dem 19. Jahrhundert. Damals ging es um den feudalen Obrigkeitsstaat und seine ideologische Abstützung und Legitimierung durch die christlichen Kirchen. Das ist Geschichte. Heute müssen wir fragen: Wie können wir die Zusammenarbeit des Gemeinwesens mit den Weltanschauungs- und Religionsgemeinschaften so gestalten, dass die Gesellschaft im Ganzen davon profitiert? Und wie können wir sichergehen, dass es dabei fair und demokratisch zugeht? Dazu braucht es Leitlinien. Das sind nach meiner Ansicht Pluralität, Gleichberechtigung und staatliche Säkularität. Der Staat muss den gleichen Abstand zu den Religionen halten, er darf nicht einzelne bevorzugen, so wie es leider noch der Fall ist. Aber er muss auch nicht so tun, als ob es keine Religionen oder Weltanschauungen unter seinen Bürgern gäbe. Ein solcher ideologischer Säkularismus kehrt das Problem nur um, löst es aber nicht.
Außerdem sollten die Parteien und die Politik insgesamt darauf achten, dass sie nicht eine zu große Nähe zu bestimmten Religionsgemeinschaften entwickeln und ihre Politik einseitig wird. Dieses Phänomen haben wir bei der Debatte um den assistierten Suizid auf krasse Weise vorgeführt bekommen. Dort nahmen die Kirchen massivsten Einfluss auf die Abgeordneten und hatten dabei leider auch Erfolg. Die Mehrheit der Abgeordneten hat dadurch ihre religiöse Überzeugung zur Richtschnur auch für alle anderen gemacht. Politik soll aber nur die freie Religionsausübung ermöglichen, und nicht alle Bürger unter bestimmte religiöse Normen zwingen. Nun haben wir ein absurdes Gesetz, das bisher selbstverständliche Freiheitsrechte einschränkt und schon die Aufklärung über den assistierten Suizid kriminalisiert. Das Bundesverfassungsgericht wird darüber urteilen. Auch der Humanistische Verband ist gebeten worden, im anhängigen Verfahren eine Stellungnahme abzugeben, was wir natürlich auch getan haben.
Der Trend ist ganz klar: Schon in wenigen Jahren werden religiöse Menschen in Bayern in der Minderheit sein, in unseren Großstädten sind sie es meistens schon jetzt, ebenso wie in vielen Ländern Europas. Ich empfehle denjenigen, die heute über eine vermeintlich christliche Mehrheitsgesellschaft reden und daraus besondere Privilegien und politische Rechte für bestimmte Religionsgemeinschaften ableiten, aber andere Überzeugungen ausschließen, zu überdenken, wohin sie ihre Argumentation unter veränderten Rahmenbedingungen führt. Toleranz und das Zulassen von Pluralität wären wohl eher am Platz, auch im eigenen Interesse.