Diese ständigen Affären mit den Haaren! Sie begannen in den 60er Jahren mit dem ersten Sprießen der Bart- und Schnurrhaare. Und sie setzten sich in den 70ern unter verschärften Bedingungen fort.
Welche Symbolkraft steckte doch in diesem Ereignis: Im Erwachen der Männlichkeit in einem für jedermann zugänglichen Bereich. Gut, den Flaum nahm Mutter noch hin, und der Akt der Nassrasur war ja schließlich auch ein Zeichen des Fortschritts. Wie aber passte das sprießende Barthaar zum kreuzbraven Façonschnitt, den einem Cousin Werner, Friseurgeselle im Geschäft seines Vaters, alle vier Wochen verpasste? – Nein, so ging es nicht weiter. Das Haupthaar musste sich dem Barthaar anpassen. Und so geschah es. Das war die Geburtsstunde jenes legendären Satzes aus Mutters fränkischem Munde, der in den Folgejahren die erste Begrüßungsformel begleitete, wenn man als junger Wilder wieder einmal im Elternhaus aufkreuzte (er wirkt noch heute, lange nach dem Tod der Eltern, nach): „Gunger (Junge), loss dir endlich mol die Hoor schneidn!“
Weil aber „der Gung“ mit Beginn der 70er Jahre als Zivi und als Jungstudent der außerparlamentarischen Opposition zuneigte, wurde Mutters Satz zum ideologischen Impuls für ein rigoroses „Nein! – Mein Haupthaar gehört mir, mein Bart gehört mir. Überhaupt gehöre ich mir selbst und nicht dieser spießigen Façonschnittgesellschaft, in der jeder jeden kontrolliert und sich keiner traut, aus der Reihe zu tanzen!“ So ließ man die Haarschnittgrußformel von Mal zu Mal über sich ergehen und widmete sich gleich danach den Köstlichkeiten aus Mutters Fleischtöpfen.
Cousin Werner wurde trotzdem regelmäßig aufgesucht. Er durfte ein bisschen an den Haaren herumfummeln, sie „eine Idee, aber nur eine Idee“ beschneiden. Das eigentliche Motiv jedoch, weiterhin den Friseurladen aufzusuchen, war die Packung R3-Präservative, die einem Werner beim Bezahlen als kostenlosen Freundschaftsdienst über die Ladentheke schob. Wahrscheinlich habe ich dieser freundlichen Geste den glücklichen Umstand zu verdanken, nicht vorzeitig Vater geworden zu sein.
Die langen Haare – sie waren in den 60er und 70er Jahren tatsächlich weniger Symbol für die erwachende Männlichkeit, als vielmehr für den erwachenden Widerstandsgeist gegen alte Zöpfe und verkrustete Gedankenwelten der Generation der Eltern und Großeltern. Dass man mit dem ungezwungenen Wachstum einen wunden Punkt der alten Autoritäten getroffen hatte, war dann wahrlich nicht mehr zum Lachen. Da wurde schon mal dem Vater vom gestrengen Lehrherrn mitgeteilt: „Also, so geht das nicht mit Ihrem Sohn!“
Dabei waren solche Vorgänge nur die Spitze des Eisbergs aus Unverständnis, Wut oder sogar Hass auf die „Langhaareten“, die manch einer gerne vorsorglich „ins Lager“ gesperrt hätte. So subversiv-fantasievoll, wie in einer Lehrersfamilie dieser Zeit, ging es wohl selten zu: Als der langhaarige Knabe einen Job in einer Firma suchte, die ihren Mitarbeitern ausdrücklich verboten hatte, lange Haare zu tragen, kaufte ihm die Mutter ohne Umschweife eine Kurzhaarperücke. Jeden Werktagmorgen stülpte sie sie ihrem Sohn übers wallende Haupthaar. Mission erfüllt. Job gerettet. Und nach Arbeitsschluss durfte er wieder Winnetou sein.
Die Friseure und Friseurinnen (die damals noch Friseusen genannt werden durften), wie sahen sie diese haarige Entwicklung des Zeitgeistes? Früher oder später mit einem gesunden Sinn fürs Geschäft. So lange aber das Wachstum wild war, konnte an den Haartrachten wenig verdient werden. – Roswitha Detmann aus einer Stadt in der Region, legte 1964 im Salon ihrer Mutter die Gesellenprüfung ab und 1969 ihre Meisterprüfung. Sie selbst betrachtete sich damals als junge Wilde, war Leadsängerin der „Sovereigns“ und in der Mode, wie sie sagt, „vorne dran“. Im Geschäft lag neben der Bunten und dem Stern die Bravo in der Zeitungsablage und vor allem die Hochglanzmodezeitschrift Vogue – eine wunderbare Allianz der Zeitgeistwelten.
Die 70er seien am Land „extremer“ gewesen als die 60er, glaubt Roswitha und meint damit eher die frisurtechnische als die gesellschaftliche Entwicklung: „Man hat dann nicht mehr mit Lockenwickler eingedreht und kompakt frisiert, sondern einfach wild. Man hat toupiert und die ersten Kreationen gemacht. Je höher und je kreppiger, desto besser.“
Die 70er Jahre, erzählt sie, waren die Jahre der Zweithaarperücken und Haarteile. „Das hat geboomt, das kann man sich nicht vorstellen. Wenn in der Stadthalle Ball war, hatte ich am Tag zuvor dreißig Haarteile zum Auffrisieren und am nächsten Tag wurden die in die Haare integriert. Zuhause eine Perücke im Schrank – das war einfach schick.“ Für den Mann jedoch, glaubt Roswitha Detmann, sei die Haarrevolution noch viel größer gewesen: „Weil der vom Façonschnitt weg wollte und schließlich bei der Dauerwelle landete. Alle – mein Bruder, mein Vater, mein Freund – wollten plötzlich ne Dauerwelle.“
Die Mutigeren fanden die Typen im Erfolgsmusical „Hair“ klasse oder imitierten die Dreadlocks Bob Marleys, die anderen warteten ab, bis Paul Breitner, Sepp Maier oder Günter Netzer den Minipli salonfähig machten. Und im Friseurgeschäft ging die Post ab: „Die Männer sind in die Damensalons gegangen, weil die meisten Herrenfriseure keine Dauerwelle rollen konnten.“ Einträchtig saßen Männchen und Weibchen nebeneinander unter den Hauben und lasen ihre bunten Illustrierten. Die Frauen fanden das spaßig und die Männer mussten sich nicht mehr schämen, in einen Damensalon zu gehen.
Was aber hatte das noch mit dem Protesthaarwuchs der 60er zu tun? Nichts. „Gegen den Strom sind diese Männer nicht geschwommen. Das waren einfach Mitläufermanieren“, resümiert Roswitha. „Der eine hat sich ne Dauerwelle machen lassen, dann machte der andere das eben auch.“
Mann wollte ja modern sein und 'in'. Wohlgemerkt: „in“ und nicht mehr „out“, im kalten Wind des Widerspruchs.
Und so ging es dem einstmals wilden Haar nicht anders als der einstmals autonomen Rockmusik: es wurde kommerzialisiert. Seiner Gesellschaftsfähigkeit stand nichts mehr im Wege. Bis der nächste Trend durchs Dorf gejagt wurde.