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LENDERSHAUSEN
Der Geschmack der Kindheit
Nahezu jedes Lebensmittel zu jeder Zeit zur Verfügung zu haben, das erscheint uns heute selbstverständlich. Viele Gerichte, die Mutter oder Oma noch für die ganze Familie kochten, sind inzwischen vielen zu aufwändig.
Alles Handarbeit: Auf diesem Kuchendeckel wurden früher die selbst gemachten Nudeln geschnitten, erinnert sich die Lendershäuserin Gertraud Thein.FOTO: Gudrun Klopf
| Alles Handarbeit: Auf diesem Kuchendeckel wurden früher die selbst gemachten Nudeln geschnitten, erinnert sich die Lendershäuserin Gertraud Thein.FOTO: Gudrun Klopf
Von unserer Mitarbeiterin Gudrun Klopf
 |  aktualisiert: 30.09.2016 17:30 Uhr

Ob es der würzige Sauerbraten mit Blaukraut und Klößen, der saftige Schweinebraten mit Wirsing oder einfach der profane Kartoffelsalat ist, der in puncto Essen den Inbegriff von Heimat darstellt: Es muss schmecken wie bei Muttern. Was die Verknüpfung von heimatlichen Gefühlen mit bestimmten Gerichten ausmacht – da haben Ehefrauen bei ihren Männern keine Chance: Bei der Mutter schmeckt es einfach am Besten. Mithalten kann da allenfalls noch die eine oder andere Oma.

Natürlich koche die eigene Frau auch ganz hervorragend, aber irgendetwas passe immer nicht, bedauern die befragten Männer, die im Hinblick auf den häuslichen Frieden namentlich alle nicht genannt werden möchten. Mal ist die Soße zu dünn, mal fehlt irgendein Gewürz oder die Kruste ist zu lasch. Da kann die Angetraute sich noch so viel Mühe geben, sich noch so genau an die Rezeptvorgaben halten – es schmeckt einfach nicht wie früher daheim.

In unser Gedächtnis haben sich der Geschmack von frischem Hefekuchen, der Duft von Entenbraten und das Krachen der knusprigen Gänsehaut fest eingebrannt. Verknüpft damit sind Erinnerungen an Kindheit, an heile Welt und Geborgensein.

Doch was bei den Müttern auf den Tisch kommt, unterliegt dem Wandel der Zeit, ist abhängig von gesellschaftlichen Entwicklungen und den jeweiligen Lebensumständen. Nahezu jedes Lebensmittel zu jeder Zeit zur Verfügung zu haben, das erscheint uns heute selbstverständlich. Bevor es die heutigen Transport- und Konservierungsmöglichkeiten gab, war dies keineswegs so – man aß, was Garten, Feld und Stall hergaben. Man trocknete, räucherte, salzte, kochte und grub ein, und machte so auch ohne Gefriertruhe viele Lebensmittel haltbar.

Wie beispielsweise die „Dörrbohnen“, an die sich Gertraud Thein erinnert: „Die Bohnen wurden grün geerntet und kurz blanchiert“, schildert die Lendershäuserin die Verarbeitung. Dann kamen sie in die Sonne zum Trocknen und wurden schließlich in einem Stoffsack aufbewahrt. Zum Verzehr überbrühte man die Bohnen mit kochendem Wasser, kochte sie zusammen mit Gelben Rüben und Lauch und gab sie, zusammen mit Blutwurst, in die obligatorische Einbrennsoße. Mehlklöße vervollständigten dieses „Heimatessen“.

Als besonderes kulinarisches Ereignis hat sich vielen der Schlachttag im Winter eingeprägt. Nahezu jedes Haus im Dorf hielt für den Eigenbedarf Schweine, deren Fleisch die Familie das ganze Jahr über ernährte. „Wir machten Wurst und Fleisch in Büchsen ein“, entsinnt sich Gertraud Thein. Vom Kachelofen in der Küche ging der sogenannte „Deutsche Schlot“ weg. „In den hängten wir auf dem Dachboden die Würste und Schinken zum Räuchern.“ Kam der Schlotfeger, gab es immer viel Dreck in der Küche, da sich hier die Öffnung des Schlotes befand. Lachend erzählt Thein von gängigen Bestechungsversuchen: „Damit er den Deckel nicht jedes Mal aufmachte, bekam der Schlotfeger ein Ei zugesteckt.“ Das habe er in seinen Zylinder getan, den er anschließend wieder aufsetzte. „Ich überlege heute noch, wie er das gemacht hat – ob er wohl schon mehr Eier drinnen hatte?“

Entenpfeffer

Im Sommer standen selbst aufgezogenes Geflügel und Stallhasen auf dem Speiseplan. Viele Tiere waren Lieferanten für ein ganz spezielles Heimatgericht – dem Hasen-, Enten- oder Taubenpfeffer. „Entenpfeffer, das ist was Feines“, gerät Getraud Thein ins Schwärmen, „das ist mindestens so gut wie der Braten selbst.“ Beim Schlachten wird das Blut des Tieres aufgefangen und mit Essig verrührt, damit es nicht gerinnt. Alle Teile, die in manch einer Küche im Abfall landen würden, kommen bei diesem Gericht in den Topf: Kopf, Hals, Flügel, Magen und die „Tatschen“, die Entenfüße. Selbstredend sorgt auch bei dieser Blutsoße eine ordentliche Einbrenne für die gehörige Dickflüssigkeit. „Da muss man schon die Hände zum Essen nehmen“, betont die 77-Jährige, mit Messer und Gabel bekomme man da nichts ab.

Auf den Dachböden der Bauernhöfe befand sich häufig ein Schlag für Tauben. Mit einer Masse aus altbackenen Brötchen und Eiern gefüllt, kamen sie auch in der achtköpfigen Familie von Getraud Thein häufig auf den Tisch. Dazu gab es Wirsing – gekocht, gemahlen und mit einer Einbrenne versehen – und selbst gemachte Kartoffelklöße. Stolz berichtet Thein: „Ich kann die Tauben so ausnehmen, dass ich den Kropf ganz herauslöse.“ Das brauche zwar einige Zeit, schaffe aber auch viel Platz für die Fülle.

An Freitagen kam kein Fleisch auf den Tisch, „da gab es Nudeln und Kirschen“, sagt Thein. Die Nudeln wurden mit den eigenen Hühnereiern selbst gemacht. Überall im Haus lagen die ausgerollten Teigfladen zum Trocknen aus, bevor sie auf dem Kuchendeckel geschnitten wurden. Gertraud Thein benutzt noch immer das große runde Holzbrett von ihrem Ururgroßvater Nikolaus Haßfurter, das mit einem Brandzeichen des damaligen Bäckers gekennzeichnet ist.

Alles Handarbeit

Kochen war früher mit viel Handarbeit verbunden. Ohne den Einsatz von Hilfsgeräten, wie Küchenmaschinen, Mixer oder Pürierstab wurden Kuchen und Brot gebacken, Nudeln selbst gemacht, Kraut gehobelt, Meerrettich gerieben und Klöße geformt.

Durch veränderte Gesellschafts- und Familienstrukturen sind in den vergangenen Jahren traditionelle Essgewohnheiten mehr und mehr aufgebrochen. Man trifft sich nicht mehr zu festen Zeiten in der Großfamilie am Esstisch, um gemeinsam das von Müttern oder Großmüttern zubereitete Essen zu sich zu nehmen. In der heutigen Kleinfamilie sind meist beide Elternteile berufstätig; das Essen muss rasch zubereitet werden. Tiefkühlkost und Fertigprodukte erleichtern das schnelle Kochen, für Aufwändiges fehlt meist die Zeit.

„Blaukraut gibt es bei mir nur aus dem Glas“, gesteht Ingrid Hofmaier. Und von den „knörzigen“ Stengelkartoffeln den Dreck abzuschaben und sie dann zu schälen, wie es ihre Mutter Marga Schad gerade tut, dauert der Tochter auch viel zu lange. Die unter dem Namen Topinambur bekannte Pflanze aus der Familie der Korbblütler war früher ebenfalls ein häufiger Gast auf heimischen Tellern. Die Wurzelknollen der gelb blühenden Nutzpflanze konnten den ganzen Winter über in der Erde bleiben und bis ins Frühjahr hinein geerntet werden. Auch wenn sie noch nie selbst Sauerbraten oder gefüllte Tauben gekocht hat – schmecken lässt sich Ingrid Hofmaier die traditionellen Gerichte ihrer Mutter gerne. Der Geschmack von Heimat, das ist für sie der Entenpfeffer. „Aber meine Familie isst das alles nicht“, bedauert sie. „Bei uns gibt es eher Schnitzel in allen Variationen, Schinkennudeln, Lasagne“, zählt sie auf.

Vegetarisch

Tochter Annika, die sich vegetarisch ernährt, bereichert den Familientisch mit schnellen, modernen Gerichten, die sie im Kochunterricht in der Mittelschule gelernt hat. „Bei Familienfeiern gibt es jetzt neben den normalen Schnitzeln und Hähnchenschenkeln auch Sojaschnitzel“, sagt Hofmaier, denn inzwischen gebe es schon mehrere Vegetarier im Familienkreis.

Wie in den Familien von Gertraud Thein und ihrer Schwester Marga Schad stillt an Weihnachten und Silvester in vielen Häusern die traditionelle Linsensuppe den Hunger von Jung und Alt. Ob dieser schmackhafte Brauch noch lange erhalten bleibt?

Die Globalisierung hat längst auch in unsere Kochtöpfe Einzug gehalten. Uns steht permanent ein riesiges Angebot von Nahrungsmitteln aus der ganzen Welt zur Verfügung. Wir sind offen für vielfältigen Genuss und lassen uns Sushi, Pizza, Döner und Co. schmecken.

Was die Kinder von heute wohl im Alter nennen werden, wenn man sie nach ihrem typischen „Heimatessen“ fragt. Vielleicht Pommes, Spaghetti oder Hamburger?

Vielen bleibt heute für aufwändig zubereitetes Essen keine Zeit. Das Schälen der Stengelkartoffeln dauere ewig, meint etwa Ingrid Hofmaier (links), die ihrer Mutter Marga Schad bei dieser Arbeit zusieht.FOTO: G. Klopf
| Vielen bleibt heute für aufwändig zubereitetes Essen keine Zeit. Das Schälen der Stengelkartoffeln dauere ewig, meint etwa Ingrid Hofmaier (links), die ihrer Mutter Marga Schad bei dieser Arbeit zusieht.FOTO: G. Klopf
 
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