Es ist still und leise in der noch schlummernden Gemeinde Sand. Das Thermometer zeigt deutlich unter null Grad an in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch. Während die meisten Menschen noch unter einer wärmenden Decke schlafen und träumen, steht Mathias Rippstein am Mittwochmorgen schon um 2 Uhr auf. Wie in den beiden Nächten zuvor fiebert der Winzer zum dritten Mal der Eisweinlese entgegen. „Das war sehr schwierig heuer, insgesamt habe ich bestimmt 30 Messungen gemacht und war über 20 Mal im Weinberg.“
Nach einer Tasse Tee fährt Rippstein zu seiner „Eisweinfläche“ am Sander Kronberg und liest das Thermometer ab. Es zeigt sechs Grad minus an, für einen anerkannten Eiswein sind aber minus sieben Grad vorgeschrieben. Um 4 Uhr der zweite Versuch: die Temperatur ist inzwischen auf minus 6,5 Grad gesunken. Über eine Stunde später folgt Versuch Nummer drei: sieben Grad unter dem Gefrierpunkt. Rippstein freute sich: zumindest eine Beeren-Auslese ist bei dieser Temperatur schon möglich. Rippstein spielt mit dem Gedanken, die Hälfte seiner „Eisweinfläche“ von 1000 Quadratmetern zu ernten. Doch dann pokert er, wartet bis 6 Uhr ab. Schließlich weiß der erfahrene Winzer, dass die Temperaturen bei sternenklarem Himmel vor der Dämmerung noch weiter sinken. Die nächste Messung zeigt minus neun Grad. „Es war ein Geschenk Gottes“, sagt Rippstein. „Schneefall oder eine Wolkenwand hätten alles zunichte gemacht, weil dann die Temperatur rapide ansteigt.“
Dann muss alles schnell gehen: Die zehn Erntehelfer, die seit Tagen in den Startlöchern stehen, werden zur Eisweinlese angerufen. Kurz vor 7 Uhr geht das Abenteuer mit Stirnlampe und Schere los: „Man wartete schon die ganze, teils schlaflose Nacht im Bett darauf, dass das Handy klingelt“, sagt der erfahrene Erntehelfer Rudi Ruß. Die Eisweinlese sei immer wieder ein Highlight, auch wenn es sehr kalt ist.
Die Eisweinernte dauert eineinhalb Stunden, während dieser Zeit bewegt sich das Thermometer kaum. Der Silvaner kommt nicht ganz ausgefroren in die Presse. „Die fast neun Grad minus über gut drei Stunden reichen nicht aus, um die Silvanertrauben erbsenhart aufzufrieren“, erklärt Rippstein. Entscheidend sei dafür neben der Dauer der Frosteinwirkung auch der Traubenzuckergehalt, weil der Zucker wie ein Frostschutzmittel wirkt. Hätten wir weniger reife Trauben gehabt, dann wären sieben Grad minus ausreichend gewesen“, sagt Winzer Rippstein, der 97 Grad Öchsle ermittelt. „Wenn man mit knapp 100 Öchsle ins Rennen geht, dann kann man durchaus bis zu 180° Öchsle Mostgewicht erzielen. Ich hätte mir zehn bis elf Grad minus gewünscht, dann wäre es nach 2012 sicherlich wieder ein super Eisweinjahrgang geworden“, sagt der dennoch sehr zufriedene Rippstein, der sich über einen tollen Süßwein in Beeren-Auslese-Qualität freut.
Rippstein sieht den Eiswein als absolute Königsdisziplin. „Ein richtig guter Eiswein mit einem extrem ausdrucksstarken süßen Extrakt, einem irren, langen Nachhall im Geschmack ähnelt einem blonden Gewitter, und ned bloß a Stürmle“, sagt Rippstein über die Gaumenfreude. Nur wenige Winzer trauen sich einen Eiswein zu, weil er sehr viel Know-How erfordert und extrem risikoreich zu ernten ist.
Die Ausbeute bei der Eisweinlese liegt bei zehn bis 20 Prozent, bei Windbruch und späterer Lese können es in manchen Jahren auch nur fünf Prozent sein. „Eiswein macht in der Regel niemand, um Geld zu verdienen. Es setzt zusätzlich ein i-Tüpfelchen auf die tolle Weinkollektion eines Superjahrganges, und das ist die Motivation trotz eines hohen Ausfallrisikos mehrerer Jahre“, sagt Rippstein.
Man müsse an viele Kleinigkeiten denken, beispielsweise an die Batterien der Stirnlampen. „Wenn man einen Fehler macht, dann ist es ganz schnell vorbei“, erklärt Rippstein das Risiko. Die Herstellung eines Eisweines und die gesamten Vorbereitungsmaßnahmen inklusive Ernte für eine 1000 Quadratmeter große Fläche erfordern circa 400 Arbeitsstunden. „Wir haben an jedem Rebstock zehn bis 15 Kniebeugen übers Jahr gemacht“, erklärt Rippstein. Ob es mit dem Eiswein klappt, hängt ab von den richtigen Entscheidungen und natürlich vom Wetter. Der Frost muss zur richtigen Zeit kommen. „Entweder hat man Glück oder nicht“, sagt Rippstein.
Statistisch gesehen kommen sieben Grad Celsius unter Null im November alle 20 Jahre vor. „Mein Wetterbericht sieht in der Vorhersage keine tieferen Temperaturen“, blickt Rippstein nach der Lese entspannt nacht vorne. Den Wetterbericht studiert der Winzer immer aufmerksam. Seinen Kollegen wünscht er in den nächsten Dezemberwochen noch Glück. Doch viele Trauben hängen wohl nicht mehr, glaubt Rippstein. Die Fröste der zurückliegenden Nächte hätten die Haut der Beeren mürbe und dünn werden lassen. Seine Beeren seien überreif gewesen, mit gesundem Fruchtfleisch. Daher sei die Lese an diesem Tag zu 99,7 Prozent richtig gewesen. „Wir haben alles rausgekitzelt, was möglich war“, sagt der selbstkritische Winzer und freut sich auf das flüssige Gold aus seiner Eiswein-Beeren-Auslese.