Barrieren sind nur im Kopf – davon ist Michael Herold fest überzeugt. Mit dieser Haltung hat der 35-Jährige in seinem bisherigen Leben schier unüberwindbar scheinende Hindernisse gemeistert. Fallschirmspringen, Segelfliegen, in Neuseeland arbeiten, Jet-Ski fahren, Tauchen, vom Sky-Tower in Auckland springen. Ja gut, alles nicht unbedingt alltägliche Verrichtungen. Aber: Wenn man sich nur mühsam ein paar Meter mit Krücken vorwärts bewegen kann und ansonsten auf den Rollstuhl angewiesen ist, dann wird der ganz normale Alltag schon zu einer Herausforderung. Michael Herold aus Buch ist an einer „spinalen Muskelatrophie“ erkrankt – Muskelschwund. Doch das hinderte ihn nie, seine Träume zu verwirklichen.
Als ihm Freunde Fotos von ihrer Reise durch Thailand zeigten, packte den jungen Mann die Sehnsucht. Doch zunächst schien seiner Abenteuerlust eine Grenze gesetzt. Eine organisierte Reise oder mit einer Gruppe unterwegs zu sein interessierte ihn nicht. Wenn, dann wollte er Thailand auf eigene Faust erkunden. „Das ist etwas, das werde ich nie können“, habe er damals gedacht. Doch der Traum vom asiatischen Land ließ Herold nicht los, bis er schließlich mit einem für ihn typischen „Ach egal“, alle Bedenken beiseiteschob und Anfang November vergangenen Jahres einen Flug nach Bangkok buchte.
Die verbleibenden drei Wochen bis zum Abflug versuchte Herold herauszufinden, wie „rollstuhltauglich“ Thailand ist. Aber weder in Reisebüros noch in Reiseführern für Rollstuhlfahrer fand er Informationen. Im Internet knüpfte er hilfreiche Kontakte und klärte etliche Fragen vorab. Drei Stationen plante der Abenteurer auf seiner Reise durch Thailand ein: die Hauptstadt Bangkok, das königliche Seebad Hua Hin und eine einsame Insel.
Natürlich konnte nicht alles rund laufen: „Als ich meinen elektrischen Rollstuhl am Flughafen in Bangkok wieder in Empfang nahm, war er beschädigt.“ Reflektoren abgebrochen, Halterungen verbogen, das konnte er glücklicherweise selbst reparieren.
Die Acht-Millionen-Stadt Bangkok ließ sich nicht per Rollstuhl erobern. Hindernisse, wie Werbetafeln oder Blumentöpfe, versperrten häufig die Gehwege. „Selbst auf Umwegen bin ich nicht an mein Ziel gekommen“, schildert Herold. Auf die stark befahrenen mehrspurigen Straßen wagte sich der Rollstuhlfahrer nicht. „Ich wäre in kürzester Zeit ein roter Fleck in der Landschaft gewesen.“
Also Planänderung: Mit einem Taxi ging es in das 200 Kilometer südlich gelegene Khao Takiab. Am Rollstuhl hat Herold stets eine zusammenklappbare Zwei-Meter-Rampe dabei. „Damit konnte ich meinen Rollstuhl auf die Ladefläche von Taxis fahren oder Stufen überwinden, wenn es keinen anderen Weg gab.“ Aufbauen kann Herold das acht Kilo schwere Hilfsmittel allerdings nicht alleine, „deshalb ist das wirklich nur für Notfälle“.
In dem kleinen Ort konnte Herold problemlos auf der Straße fahren, es gab Supermärkte und Bars ohne Stufen und der 200 Meter vom Hotel gelegene Strand erwies sich bei Ebbe gar als rollstuhltauglich. „Es schien, als hätte ich ein schönes Fleckchen Erde gefunden, um mich für den Winter niederzulassen.“ Doch noch war keine Zeit zum Ausruhen. Die Kosten für das Hotel lagen über Herolds Budget, also hieß es, eine bezahlbare Wohnung suchen. Fast alle online gefundenen Unterkünfte lagen in der zehn Kilometer entfernten Stadt Hua Hin. „Ausgerüstet mit meiner Adressliste und jeder Menge Sonnencreme hab ich sie abgeklappert.“ Wollte Herold nicht für jede Strecke ein Taxi bezahlen, blieb ihm nur die vierspurige Hauptstraße, um in die Stadt zu kommen. „Nach den ersten 20 Minuten Schocktherapie war es direkt einfach“, lacht Herold. Er habe nicht mit der durchwegs positiven Reaktion der anderen Fahrer gerechnet – kein Drängeln oder Hupen, sondern höfliches Abstandhalten und Platzmachen. Die Menschen lachen und winken beim Überholen, orange gekleidete Mönche am Straßenrand zeigen anerkennend den erhobenen Daumen. „Ich war mehr mit Zurückgrüßen und Winken beschäftigt, als mit dem Straßenverkehr.“
Nach zwei Tagen Suche fand Herold eine kleine, rollstuhlgerechte Wohnung im Zentrum von Hua Hin. In diesem ältesten Seebad Thailands verbringt auch die Königsfamilie regelmäßig die heißen Monate des Jahres. Um nicht auf fremde Hilfe angewiesen zu sein, transportiert der Globetrotter sein Gepäck in einer leichten Reisetasche auf seinem Schoss. „Die Tasche fasst leider nur 45 Liter.“
Nun konnte er sich in die thailändische Kultur vertiefen. „Ich wollte so weit wie möglich am alltäglichen Leben im Land teilnehmen.“ Versuchsfeld „thailändisches Essen“: An Möglichkeiten, etwas Essbares zu kaufen, mangelt es nicht. Doch wie bekommt man es in die Hände, wenn man weder die Schrift lesen kann, noch Bilder da sind, auf die man deuten könnte? Wie bestellen, wenn man vom Rollstuhl aus nicht in die Töpfe gucken kann oder die Köchin erst nach der Bestellung das Essen frisch zubereitet? Nach kulinarischem Frust mit Tütensuppen und Fertiggerichten ging Herold die Sprachbarriere an. „Entweder deutete ich auf das Essen eines anderen Gastes und machte durch Gesten klar, dass ich dasselbe wollte. Oder ich zeigte wahllos auf einen Topf und ließ mich überraschen.“ Bei vielem wisse er bis heute nicht, was er das gegessen habe. „Einmal erwischte ich schwarze, zehnjährige Eier, die genau so rochen, wie sie heißen. Ein andermal konnte ich die Köchin gerade noch stoppen, bevor Hühnerfüße auf meinem Teller landeten.“
Auch an Thailändisch versuchte sich der Abenteurer. „Ich wollte nur einzelne Wörter und Satzfetzen lernen und die dann mit Gesten ergänzen.“ Einen wichtigen Punkt übersah er bei seinem eifrigen Studium: In Thai erlangt jedes Wort durch unterschiedlich ausgesprochene Tonlagen und Betonungen eine vollkommen andere Bedeutung. Nach ein paar Wochen gab er seinen Versuch auf, er beschränkte sich auf Grüße und Floskeln. Mit Englisch und vielen Gesten gelang es Herold, sich verständlich zu machen. Für richtige Gespräche habe es leider nicht gereicht. „Doch die Thais sind sehr hilfsbereit und rücksichtsvoll.“ In Deutschland gebe es zwar weniger Barrieren, aber dafür hätten die Deutschen auch wesentlich mehr Berührungsängste.
Nach zwei Monaten beschloss Herold, seinen Aufenthalt in Thailand zu beenden. Doch nach Deutschland zurück zog es ihn noch nicht. Stattdessen wollte er weiter nach Neuseeland fliegen, „schließlich war ich ja schon auf halbem Weg dort“. Nach viel Stress – der Rollstuhl passte nicht in den Laderaum des Flugzeuges – und langen, unbequemen Wartezeiten, kam er im Land der Kiwis an.
Zurück in Deutschland, arbeitet der Unermüdliche an zahlreichen Projekten. Ein großes Anliegen ist es ihm, Menschen zu motivieren, sich etwas zuzutrauen und ihre Träume zu leben. Denn „wer weiß schon, wie lange wir noch Zeit haben, all die Dinge zu tun, die wir wollen“.
Michael Herold berichtet bei den Gesundheitstagen in der Hofheimer Grundschule über sein Leben und wie er lernte, Barrieren zu überwinden. Samstag, 29. März, 17.15 Uhr, Raum 7.