Alles ist anders. Jahrelange Gewohnheiten sind abgelegt, neue Bedingungen, neue Regeln und neue Vorsichtsmaßnahmen – daran haben einige Mitarbeiter in den Werkstätten der Lebenshilfe in Augsfeld zu knabbern. Corona verlangt den Menschen mit Behinderung einiges ab – aber auch dem Personal.
290 Arbeiter beherbergen die Werkstätten in normalen Zeiten, doch die gibt es aktuell nicht. Der "Lockdown" begann für die Belegschaft in Augsfeld am 18. März. Von heute auf morgen waren die Werkstätten geschlossen, sämtliche Mitarbeiter mit Behinderung mussten zuhause bleiben. Seit 2. Juni ist zumindest ein Teil wieder an die Werkbänke zurückgekehrt, am 1. Juli wurde noch einmal aufgestockt. Etwa 140 Mitarbeiter, also rund die Hälfte der kompletten Belegschaft, verteilen sich aktuell auf die verschiedenen Arbeitsgruppen. "Wir haben viele Mitarbeiter, die Nähe brauchen, Umarmungen brauchen und mit der vorgeschrieben Abstandshaltung nicht umgehen können", erklärt Werkstattleiter Harald Waldhäuser den Umstand, dass immer noch noch so viele Menschen zuhause bleiben müssen. Auch Menschen mit Vorerkrankungen, Schwerstbehinderte und andere Risikofälle können noch nicht wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren.
"Die Entscheidung, ob und wann ein Mitarbeiter wieder zu uns kommen kann, ist eine Entscheidung über Leib und Leben", unterstreicht Waldhäuser. "Das ist eine große Verantwortung." Wenigstens hatte die Lebenshilfe nicht einen einzigen Infektionsfall zu beklagen, das spezielle Hygienekonzept scheint also funktioniert zu haben.
Dabei war genügend Arbeit vorhanden. Als Zulieferer der heimischen Industrie hatten und haben die Werkstätten volle Auftragsbücher. Die Unternehmen brauchen die Produkte, die in Augsfeld gefertigt werden. Deshalb hieß es, egal ob Hausmeister, Verwaltungsangestellte oder Reinigungskraft: ab in die Werkstatt. Mit dem vorhandenen 75-köpfigen Personal wurden und werden nach wie vor die Lücken gestopft, die das Coronavirus gerissen hat. "Das hat uns schon gefordert, die acht Stunden pro Tag haben öfter nicht gereicht", weiß auch Gusti Markert, die normalerweise als Vertrauensperson für den Werkstattrat fungiert.
Herausforderung bewältigt
Für Werkstattleiter Harald Waldhäuser war es "schon ein Spagat, die bestehenden Aufträge abzuarbeiten. Eingereichte Urlaube mussten genommen, Überstunden möglichst wenig aufgebaut werden". Doch es gab keinerlei Verzug. Das Personal rückte noch enger als sonst zusammen, "die Herausforderung haben wir bewältigt", zeigt sich der Chef durchaus beeindruckt von dem, was sein Personal in den vergangenen Wochen geleistet hat. "Uns ist in den letzten Wochen richtig bewusst geworden, was unsere Leute hier tagtäglich leisten", würdigt Gusti Markert zudem die Produktivität ihrer Schützlinge.
In diesem Werkstattrat, quasi dem Betriebsrat der Lebenshilfe-Werkstätten, "sitzt" auch Paul Moser. Er und seine Ehefrau Tatjana sind zwei der Mitarbeiter, die bereits wieder arbeiten dürfen. "Zum Glück", wie Moser zugibt. Denn die Zeit daheim war wohl nicht nur für ihn "gähnend langweilig". Mehr als Couch, Fernsehen und der eigene Garten bot sich nicht als Beschäftigung. Nun ist wenigstens wieder etwas Alltag in sein Leben und das seiner Frau zurückgekehrt. Auf seine geliebte Blasmusik, Moser ist Mitglied der Haßfurter Blaskapelle, muss er allerdings noch verzichten.
Sehnsucht nach Hähe
Dass die Nähe zu anderen den Behinderten sehr wichtig ist, wird immer wieder betont. Als vor kurzem ein Mitarbeiter verstarb, fand die Beisetzung ohne die Kollegen statt. "Das hat die Leute schon getroffen", macht Waldhäuser die Bedeutung der zwischenmenschlichen Beziehungen innerhalb der Belegschaft deutlich. Das Personal hat deshalb trotz der Mehrbelastung in der Produktion auch in den zurückliegenden Wochen und Monaten regelmäßig Kontakt zu den Mitarbeitern hergestellt. Sei es telefonisch, per Videoanruf oder auch durch eine besondere Postkartenaktion.
Damit überhaupt wieder Mitarbeiter in die Werkstätten zurückkehren konnten, musste die Werkstattleitung ein spezielles Hygienekonzept vorlegen. Das beinhaltet unter anderem ein besonderes Schichtmodell. Da der vorhandene Platz in den Arbeitsräumen aufgrund der Abstandsregel nicht für alle Mitarbeiter ausreicht, wurde die dezimierte Belegschaft geteilt, erscheint im wöchentlichen Wechsel zur Arbeit. Wer frei hat, für den gibt es eine Art Hausaufgabe. Im "home office" müssen beispielsweise Rätsel gelöst werden, um den Denkapparat auf Trab zu halten. In der Werkstatt selbst mussten zudem die einzelnen Arbeitsgruppen umgestaltet werden. Eheleute, Geschwister, Kinder wurden jeweils zusammen in eine Gruppe eingeteilt, um das Infektionsrisiko klein zu halten und gegebenenfalls die Infektionsketten besser darstellen zu können.
"Wir haben uns schon etwas kasteit", weiß Harald Waldhäuser, dass aktuell sehr viel "ganz anders" ist. Die Mitarbeiter, die normalerweise auch gerne mal beieinander stehen, dürfen genau das momentan nicht. Auch der Speisesaal und der Pavillon im Hof stehen aktuell selbst in der Pause nicht zur Verfügung. "Jeder Mitarbeiter hat neben seinem Arbeitsplatz auch einen Platz zum Essen", sagt Waldhäuser. Das Mittagessen wird so eben an der Werkbank serviert. "Unsere Werkstatt ist eigentlich auch Lebensraum", betont Waldhäuser. Das sei momentan aber nicht umzusetzen.
Die leidigen Masken
"Die , die da sind, haben das alles akzeptiert", weiß der Chef um das Verständnis über die Sonderregeln. Aber auch, dass es, je länger die Einschränkungen gelten, "noch eine Herausforderung wird". Lediglich die Maskenpflicht kommt gar nicht gut an. "Man schwitzt unter den Dingern, das ist sehr unangenehm", bekommt man in den Werkräumen überall zu hören. Wenigstens am Arbeitsplatz kann die Maske aber weg gelassen werden.
Für jeden Mitarbeiter steht pro Tag eine neue (Einweg-)Maske zur Verfügung. "Wenn wieder alle da sind und die Maskenpflicht noch besteht, bräuchten wir pro Tag 350 Masken", spricht Waldhäuser von "purem Gold". Denn es war in den vergangenen Wochen nicht leicht, die Masken in der benötigten Anzahl zu bekommen, das hat das Budget der Lebenshilfe schon gewaltig in Anspruch genommen. Spenden gab es nämlich keine.
Gestärktes Miteinander
"Wir haben alles getan, damit die Arbeit weiter geht und wir keine Kurzarbeit anmelden mussten", unterstreicht Waldhäuser. Die Löhne werden weiter gezahlt, so dass den "Zwangsurlaubern" keine finanziellen Schäden entstehen. Ermöglicht wurde das durch die Pflegesätze, die weiterhin ausgezahlt werden.
Immerhin: Durch die besonderen Umstände, die das andere Arbeiten hat, so Waldhäuder, "hat sich das Miteinander innerhalb des Personals noch einmal verstärkt. Wir haben jetzt noch ein bisschen mehr Verständnis füreinander."