Die Wirtschaft im Landkreis wächst, die Arbeitslosigkeit ist langfristig rückläufig (vor Corona bei unter drei Prozent) und die Verschuldung pro Kopf geht zurück: Wer sich wichtige wirtschaftliche Daten für den Landkreis anschaut, der müsste meinen, dass es allen Bewohnern immer besser gehen würde. Auch wenn viele Menschen vom wachsenden Wohlstand profitieren, gibt es ebenso eine nicht zu unterschätzende Anzahl von Menschen, die sich in Armut befinden.
Von relativer Armut ist die Rede, wenn Menschen weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens zur Verfügung steht. 2016 betrug das deutsche Medianeinkommen eines Singles 1615 Euro. Doch Armut lässt sich nicht allein anhand des Einkommens bestimmen.
"Arm sind Menschen auch dann, wenn sie am gesellschaftlichen Leben kaum oder nur begrenzt teilnehmen können", so Thomas Jakob von der Caritas Haßberge. Armut zeige sich somit auch im Vergleich zu anderen Menschen. Kann ich mir das Kino-Ticket leisten? Kann ich mein Kind auf den Schulausflug schicken? Kann ich fürs Alter vorsorgen? Dabei treten verschiedene Formen wie Obdachlosigkeit, Altersarmut oder Kinderarmut auf. Zudem scheitern trotz Arbeit viele Menschen daran, ohne staatliche Unterstützung ihren Lebensunterhalt zu sichern. Zwei Experten gehen gegenüber dieser Redaktion vor allem auf Obdachlosigkeit und Altersarmut ein.
Steigende Mieten als großes Problem
Auch wenn jeder arbeitsfähige Mensch in Deutschland Anspruch auf ein Existenzminimum (Arbeitslosengeld II/Hartz4) besitzt, finden auch im Landkreis Haßberge viele Menschen keine Wohnung. "Um Arbeitslosengeld II zu beantragen, brauchen Hilfsbedürftige in der Regel eine Adresse. Wenn Menschen plötzlich ihre Arbeit verlieren, kann es unter Umständen ganz schnell gehen: Der Verlust des Arbeitsplatzes bringt eine Reduzierung des Einkommens mit sich und wenn die Miete nicht mehr bezahlt wird, führt dies zum Verlust der Wohnung und somit in die Obdachlosigkeit", sagt Jakob. "Doch auch Menschen auf der Straße müssen nicht verhungern, sie erhalten das Arbeitslosengeld II tageweise ausgezahlt, zunächst für drei Tage und es muss dann das weitere Vorgehen mit dem Jobcenter geklärt werden. Die Erreichbarkeit muss sichergestellt sein", führt Jakob aus.
Eine Adresse ist allerdings keine Garantie für eine Wohnung: "Das Jobcenter übernimmt nur bis zu einer bestimmten Grenze die Kosten für eine Wohnung. Gerade in Großstädten bleibt vielen deshalb nur die Straße", stellt Jakob heraus. "Da es fast kein Angebot an kleinen Mietwohnungen im Landkreis Haßberge gibt und die Preise ebenso bei uns steigen, wächst die Gefahr von Obdachlosigkeit auch hier." Aus Jakobs Sicht hätten es Flüchtlinge bei der Wohnungssuche besonders schwer.
Zehn Wohnungslose auf der Durchreise meldeten sich 2019 bei Caritas im Landkreis Haßberge. Bei 108 Beratungsgesprächen schüttete die Caritas im Auftrag der Agentur für Arbeit 2070 Euro für Hartz4-Tagessätze aus. Insgesamt fanden 58 Übernachtungen in den Unterkünften der Caritas statt. Wie viele Obdachlose es tatsächlich gibt, lässt sich für den Landkreis kaum bestimmen. Mitte 2017 waren 15 517 wohnungslose Personen in Bayern registriert, die Obdach in lokalen Unterkünften fanden. Auf 1000 Einwohner kommt so etwa ein Obdachloser. Die Dunkelziffer ist allerdings höher, weil sich nicht alle Obdachlosen bei einer Behörde melden.
Altersarmut nimmt zu
Neben Obdachlosigkeit sieht Jakob vor allem Altersarmut als Problem im Landkreis an. Wenn die Rente zusammen mit anderen Einkommen nicht für den Lebensunterhalt reicht, können Menschen einen Antrag auf Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung stellen. 2011 empfingen 539 Leute diese Sozialleistung im Landkreis. 2018 steigerte sich diese Zahl um knapp 29 Prozent auf 693, wie der Kommunalstatistik des bayerischen Landeamtes für Statistik zu entnehmen ist.
Altersarmut ist also im Landkreis ein messbar größer werdendes Problem. Warum ist das so? "Die gesetzliche Rente reicht oftmals nicht aus. Geringverdiener haben meistens kein Geld, um zusätzlich privat vorzusorgen", erklärt sich Jakob die Entwicklung. Die dieses Jahr von der Bundesregierung beschlossene Grundrente sieht Jakob zwar als Fortschritt an, doch Altersarmut werde damit nur zum Teil bekämpft: "Um die Grundrente zu erhalten, muss man mindestens 33 Jahre Grundrentenzeiten (Erwerbstätigkeit und Zeiten der Kindererziehung, Pflege von Angehörigen, Krankheit) erworben haben. Das schaffen viele nicht." Die Bekämpfung von Armut liegt in erster Linie in der Verantwortung der Bundespolitik. Nichtsdestotrotz stellt Jakob auch Forderungen an Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker: "Der soziale Wohnungsbau und der ÖPNV müssen ausgebaut werden", ist sich Jakob sicher.
Niedrige Renten von Frauen
Andrea Stühler-Holzheimer arbeitet für den VdK, einen der größten Sozialverbände in Deutschland. Auch sie stuft Altersarmut als das größte Problem im Landkreis ein. "Die durchschnittliche Rente einer Frau im Landkreis Haßberge betrug 2018 etwa 575 Euro. Bei den Männern sind es durchschnittlich 1173 Euro. Somit stellt der Landkreis bei den Frauen das Schlusslicht in Unterfranken dar", berichtet die 53-Jährige. "Frauen üben oftmals im Vergleich zu Männern schlechter bezahlte Jobs aus. Zudem arbeiten sie aus familiären Gründen, wie Kindererziehung oder Pflege Angehöriger, oft nur in Teilzeit." In Zukunft ist jedoch davon auszugehen, dass der Rentenunterschied zwischen Mann und Frau kleiner wird. Im Vergleich zu früher gäbe es heute weniger Hausfrauen.
"Wenn Menschen Jahre lang arbeiten und dabei solch eine niedrige Rente herauskommt, führt das zu Frustration", meint Stühler-Holzheimer. Sie sieht Handlungsbedarf bei der gesetzlichen Rente: "Das Netto-Rentenniveau muss auf mindestens 50 Prozent steigen." Zudem brauche es einen Mindestlohn von 13 Euro.
Armut geht auf die Psyche
Neben Rentnern befinden sich nach Stühler-Holzheimer oftmals auch Kinder mit Behinderung und alleinerziehende Mütter in sozialen Schwierigkeiten. 2020 liegt die Mitgliedszahl im Landkreis bei 7254 - die steigende Tendenz stellt für den VdK ein Indiz für die wachsende Armut dar. Für seine Mitglieder kümmert sich der VdK unter anderem um Rechtsstreitigkeiten. Bei Klagen beträgt die Erfolgsquote 36 Prozent, bei Widersprüchen gegen abgelehnte Anträge liegt die Erfolgsquote bei 33 Prozent. In besonderen Fällen zahlt der VdK auch Beihilfen aus. "Das Durchschnittsalter unserer Mitglieder sinkt. Das zeigt, dass Armut ebenso bei Menschen mittleren Alters ein Thema ist", so Stühler-Holzheimer. Aus ihrer Sicht ist Armut nicht nur ein materielles Problem: "Viele arme Menschen haben psychische Probleme. Das sollte man nicht unterschätzen."
Um gegen Maßnahmen gegen Armut zu finanzieren, spricht sich Stühler-Holzheimer für eine höhere Besteuerung des Reichtums aus. Dies könne durch eine Vermögens- und Finanztransaktionssteuer sowie eine reformierte Erbschafts- und Schenkungssteuer gelingen. Den Forderungen an die Kommunalpolitik von Thomas Jakob schließt sich Stühler-Holzheimer an.
Dass die Maßnahmen des Staates gegen Armut nicht ausreichen, zeigt die Notwendigkeit von Tafeln. Ute Ulbrich ist die Vorsitzende der Tafel in Haßfurt: "Normalerweise kommen etwa 1200 Menschen pro Woche zu uns. In Zeiten von Corona schwanken die Zahlen allerdings sehr stark". Wer von der Tafel Lebensmittel beziehen will, muss sich einer Einkommensprüfung unterziehen. Das Landratsamt, Kommunen und paritätische Wohlfahrtsverbände wie die Caritas stellen im Landkreis dafür die sogenannte Haßberg-Card aus. Spenden und Mitgliedsbeiträge bilden die finanzielle Basis der Tafel.
Der durch die Corona-Pandemie bedingte Lockdown war eine Katastrophe für die Tafel und damit auch für die Hilfsbedürftigen: "Gleich zu Beginn des Lockdowns haben wir die Tafel komplett geschlossen. Nach etwa 14 Tagen konnten wir wieder öffnen", sagt Ulbrich. Da ältere Mitarbeiter zunächst zu Hause blieben, war Ulbrich auf Hilfe angewiesen: "Ich habe in der Zeitung eine Anzeige geschalten und war wirklich positiv überrascht, wie viele Menschen sich gemeldet haben. Allgemein danke ich allen, die uns durch Mitarbeit oder Spenden unterstützt haben." Die aktuellen Hygienemaßnahmen stellen für die Tafel nichtsdestotrotz eine große Herausforderung dar: "Durch die Masken schwitzen wir viel mehr, was die Arbeit schwerer macht." Trotz der im Vergleich zu anderen Ländern entspannten Lage, bleibt Ulbrich angespannt: "Wir sind nicht hysterisch, aber vorsichtig. Bisher hat sich niemand angesteckt."
Der Landrat sieht seine Pflicht erfüllt
Die Essenausgabe findet einmal pro Woche in Haßfurt sowie einmal pro Woche auf Bestellung in Eltmann statt. Zudem steht ein Hol- und Bringservice nach Ebern zur Verfügung. Den Bus der Diakonie zahlt die Stadt Ebern. Von der Politik wünscht sich Ulbrich Zuschüsse für die Miete, niedrigere Auflagen vom Gesundheitsamt und größere Kontingente für Fortbildungen.
Angesprochen auf die Wünsche der Tafel entgegnet Landrat Wilhelm Schneider, dass ihm keine Wünsche bezüglich Mietzuschüssen und Fortbildungen vorliegen würden. Er stünde allerdings offen für Gespräche. Die allgemeinen Vorgaben für Lebensmittel könne Schneider wiederum nicht beeinflussen. Indes habe der Landkreis seine Hausaufgaben in Sachen ÖPNV erledigt: "Die Verbesserung des ÖPNV in unserem ländlichen Raum wurde in den letzten Jahren kontinuierlich vorangetrieben. Ich bitte die Bevölkerung, die Angebote auch zu nutzen", so Schneider.
In Bezug auf den sozialen Wohnungsbau sieht das Landratsamt keinen Bedarf. Unabhängig davon seien die Kommunen hierfür verantwortlich. Zudem leiste der Landkreis durch die Förderung von Angeboten wie der Haßberg-Card, der gemeinnützigen Wohnraumvermittlung "FairMieten" und Beratungsstellen wie dem Allgemeinen Sozialen Beratungsdienst einen wichtigen Beitrag zur Armutsbekämpfung.
Die Bekämpfung von Armut ist in erster Linie wohl eine Aufgabe des Sozialstaates. Wie die Experten aus dem Landkreis zeigen, kann der Impuls zur Sozialhilfe aber bereits von der lokalen Ebene ausgehen.