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Bamberg
Afghanistan nicht aus dem Blick verlieren
Wie diese Bäuerin im zentralen Hochland sind in Afghanistan Millionen Menschen auf Winterhilfe angewiesen.
Foto: Sybille Mani | Wie diese Bäuerin im zentralen Hochland sind in Afghanistan Millionen Menschen auf Winterhilfe angewiesen.
Marion Krüger-Hundrup
 |  aktualisiert: 06.01.2022 02:21 Uhr

Mit Sorge, aber auch mit Zorn verfolgt der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick die Nachrichten aus Afghanistan, die ihm Hilfsorganisationen wie Caritas International oder Misereor und persönliche Bekannte aus der Region zukommen lassen. Der langjährige „Außenminister“ der Deutschen Bischofskonferenz, jetzt Mitglied der Kommission Weltkirche, ist zornig über eine „weitere Katastrophe", wie er im Gespräch mit dieser Redaktion sagt. Darüber, dass „die Medien bei uns ab und an, aber zu wenig und nicht lautstark genug über die Hunger- und Menschenrechtskatastrophe in Afghanistan berichten“. Die „wenigen und zu leisen Informationen werden nicht wahrgenommen“.

Frauen würden in Afghanistan ihrer Grundrechte beraubt, Mädchen dürften nicht zur Schule gehen, die Presse- und Meinungsfreiheit werde mehr und mehr eingeschränkt, beklagt Schick. Alle Nahrungsmittelreserven seien aufgebraucht. 90 Prozent der afghanischen Bevölkerung hungern und frieren, so Schicks Informationen. Viele Familien hätten ihr restliches Hab und Gut verkauft, um Geld für Lebensmittel und Heizmaterial zu bekommen. Die Menschen könnten sich weder eine medizinische Behandlung noch sauberes Wasser leisten. Kinder litten daher in Massen unter Durchfallerkrankungen. Über drei Millionen Kinder unter fünf Jahren seien akut mangelernährt.

„Wir in Deutschland und auch in der EU sind so stark mit unseren Problemen, derzeit vor allem bezüglich Covid-19, beschäftigt, dass uns alles andere entgeht“, so Schick. Das gelte grundsätzlich und durchgängig: „Bei uns herrscht ein Deutschland- beziehungsweise EU-Zentrismus, dass Nachrichten aus anderen Ländern kaum ankommen“, rügt er. Er verweist auf „schreckliche Nachrichten aus dem Jemen, Äthiopien, Somalia, Myanmar und eben auch Afghanistan.

„Wir nehmen auch nicht wahr, dass in Afrika und Lateinamerika die Impfquote gegen Corona noch unter 10 Prozent liegt, dass es über 80 Millionen Flüchtlinge weltweit gibt, von denen die allerwenigstens nach Europa und nach Deutschland kommen.“ Die meisten seien Binnenflüchtlinge oder solche, die in den Nachbarländern Zuflucht suchten etwa aus dem Irak, dem Libanon, Syrien und „jetzt auch verstärkt aus Afghanistan“.

Kalte Vernunft und ein warmes Herz schließen sich für den Erzbischof nicht aus. Vor allem dann nicht, wenn es ums „Wahrnehmen, Teilnehmen und Helfen“ geht, zu dem Weihnachten Christen erneut verpflichte: „Teilnehmen meint, dass wir das Leid und die Not der Hungernden, der Flüchtlinge, der Kranken und Ausgebeuteten an uns heranlassen und mitleiden.“ Das müsse zum Helfen führen: durch Spenden, aber auch durch politische Initiativen, die die Politiker dazu drängen, alles zu tun, dass Nöte in anderen Ländern und Kontinenten beseitigt werden und Notleidenden geholfen werde.

Schick will daher ein Zeichen setzen. Er stellt aus dem Katastrophenfonds des Erzbistums Bamberg für Flüchtlinge aus Afghanistan im Grenzgebiet zu Tadschikistan 42 000 Euro zur Verfügung. Das Geld kann das Hilfswerk „Caritas International“ des Deutschen Caritasverbandes für die Erstversorgung Notleidender einsetzt.

„Verliert Afghanistan nicht aus dem Blick und lasst die Menschen unter dem Taliban-Regime nicht im Stich“, appelliert auch Stefan Recker. Der Entwicklungshelfer und  Leiter des deutschen Büros von Caritas International in der afghanischen Hauptstadt Kabul berichtet in einem Telefongespräch mit dieser Redaktion von „wirtschaftlichen Abgründen“, vor denen Afghanistan stehe. Durch die internationalen Sanktionen hätten Banken massive Liquiditätsprobleme. Gehälter könnten seit Monaten nicht mehr ausgezahlt werden: „Es gibt jetzt einen heißen Tee am Tag statt Lohn“, sagt Recker bitter. Die Menschen hätten kein Geld, um Lebensnotwendiges zu kaufen. „Das ist ein großes Problem, das Kriminalität hervorruft“, nämlich gewaltsamen Straßenraub und Entführungen gerade von Ausländern zwecks Lösegelderpressungen.

Recker und seine afghanischen Mitarbeiter lassen derzeit Familien im Hochland als Haupthilfe Bargeld zukommen, mit dem sie auf den lokalen Märkten selbst einkaufen können: „Wir haben einen virtuellen Ernährungskorb errechnet und zahlen die Summe zweiwöchentlich aus“, erklärt Recker. In den Provinzen Kunduz und Baghlan, im Hochland von Daikundi sowie in Kabul verteilt Caritas International Lebensmittel, warme Kleidung, Decken und Heizmaterial: „Vor allem in den Bergregionen sinken die Temperaturen im Winter weit unter null Grad“, bemerkt der 58-Jährige. Er plant ferner die Einrichtung einer Nebenbasis in der tadschikischen Hauptstadt Duschanbe, um ungehinderter für afghanische Flüchtlinge arbeiten zu können.

Über andere Caritas-Projekte spricht der Büroleiter aus Schutzgründen nicht. Auch nicht darüber, wie er, der Afghanistan seit vielen Jahren kennt, die Zukunft des Landes sieht. Recker meint lediglich, dass es „momentan keine Alternative zu den Taliban und keine konsolidierte Widerstandsbewegung“ gebe. Der Westen habe sich durch die 20 Jahre dauernde Unterstützung des korrupten Regimes und den überstürzten Abzug völlig diskreditiert. Jetzt müsse „politischer Druck auf die Vereinten Nationen gemacht werden“, die Sanktionen aufzuheben, damit wieder Geld ins Land komme, „sonst kann das Land nicht überleben“.

Erzbischof Schick fordert eine gründliche Analyse der Ursachen, warum der amerikanische und europäische Einsatz in Afghanistan mit „so viel Enttäuschung, Panik und Leid endete“. Und: „Afghanistan ist nicht vorbei um der Menschen willen, die hungern!“

Erzbischof Ludwig Schick
Foto: Hendrik Steffens | Erzbischof Ludwig Schick
Stefan Recker, Leiter des deutschen Büros von Caritas International in Kabul.
Foto: Sybille Mani | Stefan Recker, Leiter des deutschen Büros von Caritas International in Kabul.
 
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  • die-appels@gmx.de
    Wir , Deutschland , haben die meisten Flüchtlinge aufgenommen jetzt sind mal andere dran.
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