Elektrisiert habe ihn das Thema, das Albrecht Fürst zu Castell-Castell beim Dekanatskirchentag des evangelische-lutherischen Kirchenbezirks Lohr angesprochen habe, sagt unser Mitarbeiter vor Ort, Ferdinand Heilgenthal. „Im deutschen Adel ist eine antisemitische Haltung weit verbreitet“, sagte Castell-Castell bei einer Podiumsdiskussion während der Veranstaltung in Gemünden (Lkr. Main-Spessart). Laut Bayerischem Rundfunk führte er dazu aus: Diesen Antisemitismus höre er aus Bemerkungen und Einstellungen heraus. Es gehe nicht immer nur um einen aktiven, militanten Antisemitismus, sondern auch um mangelnde Anerkennung und Zuneigung.
Und es geht offenbar um Kommunikation in einem geschlossenen Kreis. Der Herr, den wir unter der Telefonnummer der Vereinigung des Adels in Bayern erreichen, sagt nur barsch: „Von mir hören Sie nichts.“ Und legt auf. Das Thema elektrisiert offenbar nicht nur unseren Reporter vor Ort. Mit dem Vorwurf des Antisemitismus an Teile des deutschen Adels – den es ja seit der Weimarer Republik als gesellschaftlichen Stand gar nicht mehr gibt – können offenbar auch Verbandsvertreter nicht gelassen umgehen.
Gegenüber dieser Zeitung wollte Albrecht Fürst zu Castell-Castell das Thema nicht mehr auf den Adel beschränkt sehen. Ihm sei es beim Thema des Kirchentags „So ist Versöhnung“ vor allem darum gegangen, auf die Verantwortung seiner Kirche für die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in den Gemeinden aufmerksam zu machen. Die Kirche müsse sich fragen lassen, warum sie den Weg der Buße und Versöhnung noch nicht gegangen sei, so das frühere Mitglied der evangelischen Landessynode in Bayern.
Antisemitismus ist ganz sicher kein Thema nur des ehemaligen Adels. Und für den tiefgläubigen Castell-Castell liegt es nahe, ganz allgemein die Verantwortung seiner Kirche anzumahnen. Doch ganz so einfach ist es nicht. Die Zuneigung unverhältnismäßig großer Teile des Adels zu den sogenannten völkischen Bewegungen schon vor der NS-Zeit kennen Historiker wie Stephan Malinkowski, der darüber in einem Interview der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ sprach. Dort führt er aus, dass Nazis und Gruppen des Adels teilweise verbindende Werte, gemeinsame Ziele und Feinde hatten. Zu Letzteren gehörten auch Juden.
Albrecht Fürst zu Castell-Castell geht längst offen mit der eigenen Familiengeschichte um und versucht, damit seinen Frieden zu schließen. Er habe in der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers in Auschwitz Gott und die Menschen um Vergebung gebeten für sich persönlich, für seine Familie und den deutschen Adel, sagt er.
Die Familie Castell war während der Nazizeit den Machthabern sehr zugetan. Albrechts Vater Carl war Reiterführer der SA-Gruppe Franken. Die Söhne Albrecht und Philipp fühlten sich ebenso zu den NS-Werten hingezogen. Albrecht zu Castell-Castell besuchte in den 1990er Jahren Auschwitz und wird in einem Bericht darüber zitiert: „Ich schämte mich, wie ich mich noch nie in meinem Leben geschämt habe.“ In den folgenden Jahren entschloss er sich, das Archiv seines Bankhauses zu öffnen und die Schicksale der jüdischen Kunden aufklären zu lassen.
Viele Jahre habe er gebraucht, um seine Unternehmensleitung dafür zu gewinnen, sagt Castell-Castell jetzt im Gespräch. Deren Bedenken seien unbegründet gewesen. „Wir waren überrascht von den positiven Reaktionen.“ Die Veröffentlichung des Buches, das der Castell'sche Archivar Jesko Graf zu Dohna aus den gewonnenen Erkenntnissen erarbeitete, schildert er als große persönliche Erleichterung. Auf diese Befreiung verzichten offenbar zu viele. „Meine Behauptung, und dazu stehe ich: Vieles wird aus Rücksicht auf noch Lebende zugedeckt“, sagt der 89-Jährige.
Eine, die aus blaublütiger Familie stammt, aus Überzeugung das „von“ schon vor Jahrzehnten abgelegt und keine Scheu hat, die eigene Familiengeschichte offenzulegen, ist Jutta Ditfurth. Die Frankfurter Politikerin und Sozialwissenschaftlerin hat ein Buch darüber veröffentlicht. Der Verlag zitiert sie: „Nur einen einzigen Verwandten unter Hunderten fand ich, der Juden und Sozialdemokraten nicht verabscheut hatte.“ Und gegenüber dieser Zeitung sagt Ditfurth: „Wann werden all die adligen Archive endlich der Öffentlichkeit zugänglich, auch um die vielen ungeklärten Verbrechen an jüdischen Menschen zu klären? Es gibt keine Bemühungen.“
Auch beim Kirchentag in Gemünden hatte Albrecht zu Castell-Castell die mangelnde Aufarbeitung der NS-Vergangenheit als persönliches Problem jedes einzelnen angesprochen – gleichgültig ob aus alter Adelsfamilie oder nicht, gleichgültig, ob es dabei um Antisemitismus geht oder nicht. „Dabei habe ich gleich an die aktuelle Geschichte in Rieneck gedacht“, sagt unser Reporter Ferdinand Heilgenthal. Dort engagiert sich eine Bürgerin für eine Tafel, die an die Ermordung russischer Kriegsgefangener im Ort erinnern soll. Der Stadtrat hat sich in nichtöffentlicher Sitzung klar dagegen ausgesprochen – mit der Begründung, dass Täter noch in Rieneck lebten.
Ein deutliches Zeichen, dass die Kritik von Albrecht zu Castell-Castell durchaus elektrisieren sollte.