Der Händedruck ist kaum spürbar. Nur für einen kurzen Augenblick berühren die zittrigen Finger ihr Gegenüber, hastig weichen sie zurück. „Hallo, ich bin Niklas.“ Der 21-Jährige versucht, Blickkontakt aufzunehmen, zu lächeln, wie er es gelernt hat. Für einen Moment wirkt er selbstsicher, fast stolz. Dann fällt er zurück in alte Muster und seine Augen blicken starr auf den Boden. Der Chemiestudent liebt Vorlesungen, die Theorie, die Fakten. Alles, was eindeutig, unmissverständlich und strukturiert ist. Doch ein Gespräch bringt diese Ordnung durcheinander, macht ihn nervös und strengt ihn an. Niklas List lebt allein unter vielen, er lebt mit dem Asperger-Syndrom.
„Es gab Auffälligkeiten im Kindergarten“, beginnt der gebürtige Hesse zu erzählen und drückt seine Knie fest zusammen. List sitzt im Autismus Kompetenzzentrum Unterfranken (AKU), einer Beratungsstelle für Betroffene, Angehörige und Fachkräfte in Würzburg, an einem kleinen Tisch. Vor ihm liegen Zettel mit Stichworten. Er hat sich vorbereitet, wollte die Fragen zuvor geschickt bekommen. Nichts soll ungeplant passieren, nichts soll ihn überfordern. Warum er sich öffnen und seine Geschichte erzählen will? „Ich hoffe, dass mich die Menschen dann vielleicht ein bisschen besser verstehen können.“
Es gibt viele Bücher über Autismus, Filme wie „Adam“ oder „Rain Man“ thematisieren die Entwicklungsstörung. Prominente Persönlichkeiten wie Mozart oder Einstein sollen vom Asperger-Syndrom, einer Form von Autismus, die 1944 von dem österreichischen Kinderarzt Hans Asperger erstmals beschrieben wurde, betroffen gewesen sein. Menschen mit dem Asperger-Syndrom haben eine normale Sprachentwicklung und keine Intelligenzminderung. „Allerdings sprechen sie oft eintönig, haben eine ungewöhnliche Sprachmelodie und bewegen sich zum Teil ungeschickt“, erklärt Daniela Ursel. Die Sozialpädagogin arbeitet gemeinsam mit drei Kollegen im AKU in Würzburg. Seit der Gründung 2009 hat das Team rund 700 Autisten beraten, die meisten waren zwischen sieben und 21 Jahre alt.
„Es ist eine Behinderung, die man den Betroffenen nicht ansieht, sondern vielleicht erst auf den zweiten Blick bemerkt“, verdeutlicht Ursel. Schätzungsweise ein Prozent der Bevölkerung sind Autisten. Die Ursachen der Entwicklungsstörung sind bis heute nicht ganz geklärt. Vererbte genetische Auffälligkeiten führen dazu, dass sich das Gehirn anders entwickelt und dadurch auch anders funktioniert. Wo die meisten Menschen ein buntes Spektrum an Gefühlen besitzen und erkennen, sieht ein Autist die Welt in Schwarz-Weiß. In Ratgebern ist von einer „Empathieschwäche“ die Rede.
„Ich habe meist für mich allein gespielt“, erinnert sich Niklas List an seine Kindergartenzeit. Der Chemiestudent spricht sachlich und nüchtern, sammelt sich immer wieder. Während die anderen mit Bauklötzen spielten, interessierte er sich für naturwissenschaftliche Phänomene und technische Details. Er konnte nicht verstehen, warum die Kinder weinen, wenn er ihre mühevoll errichteten Burgen kaputt machte. „Computer sind doch viel interessanter“, sagt der 21-Jährige, sein Mund formt sich zu einem zarten Lächeln. Inmitten der Zahlen und Codes fühlte er sich immer irgendwie geborgen. Irgendwann sprachen seine Erzieher mit den Eltern, diese mit einem Arzt. Niklas List ist sechs Jahre alt, als er seinen Befund bekommt. „Das war im November 1999.“
„Autismus wird durch Befragungen der Eltern der betroffenen Kinder und Beobachtung der typischen Verhaltensweisen vor allem im Bereich der Kommunikation diagnostiziert“, erklärt Dr. Martin Häußler. Der Ärztliche Leiter des Frühdiagnosezentrums der Universitätsklinik Würzburg und sein Team beraten und betreuen die Betroffenen in enger Absprache mit Ärzten und Kliniken für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Die Mediziner stellen die autistischen Besonderheiten anhand von Fragebögen, Interviews und medizinischen Untersuchungen fest – meist kommen Kinder im Schulalter zu ihnen.
Für den sechsjährigen Niklas war der Befund ein Schock. „Danach war ich oft traurig“, sagt er mit starrer Mimik. Es scheint etwas in ihm zerbrochen zu sein, an diesem Novembertag 1999, auch wenn er unverändert monoton weiterspricht. Von der Straße vor dem AKU hört man Kinder spielen, sie rufen und lachen, klingen unbeschwert und frei. Niklas List sitzt nah bei ihnen, in seinem Kopf spielen sich aber ganz andere Szenen ab. Szenen seiner Kindheit, sie sind strukturiert, die Bilder schwarz-weiß.
Mit sechs Jahren hatte er es schriftlich: Niklas ist anders als die anderen, wird es immer sein. Keine Autismus-Spektrum-Störung (ASS), so der Überbegriff für die autistischen Ausprägungen, ist heilbar. „Durch aufwendige Behandlung und Förderung ist eine Besserung möglich“, sagt der Mediziner Häußler. „Man kann lernen, besser damit umzugehen“, sagt die Sozialpädagogin Ursel. Wichtig sei in jedem Fall, frühzeitig auf die Bedürfnisse und Talente des Autisten einzugehen. Für die Eltern sei solch eine Diagnose oft erst erschreckend, sagt Ursel, letztendlich aber eine Erleichterung. „Viele sagen: Mein Kind war immer anders, mit ihm stimmt etwas nicht.“ Wenn es Klarheit gebe, sei das meist das Ende einer langen Ungewissheit.
Niklas List konnte dank der Hilfe eines Zivildienstleistenden eine normale Grundschule besuchen. „Der hat mir geholfen, mich zu organisieren“, sagt er und fügt hinzu, „auch wenn er selbst nicht immer wusste, wie er mit mir umgehen sollte.“ Oft wurde der Grundschüler wütend, wollte alles auf Anhieb richtig machen, verzieh sich keine Fehler. Erst mit Hilfe von Therapeuten bekam er seine Aggressionsprobleme in den Griff, lernte, Fehler zu machen und durfte aufs Gymnasium gehen.
An Intelligenz hat es dem Hessen nie gemangelt. Zur Schulzeit wurde ihm eine deutliche Hochbegabung im Bereich der Naturwissenschaften attestiert. Nur im Fach Deutsch kam der Theoretiker an seine Grenzen. „Ich konnte nie etwas interpretieren oder frei schreiben“, erinnert sich List. Metaphern, Umschreibungen oder Redewendungen sind ihm fremd.
„Redensarten wie: Da musst du dich durchbeißen, verstehen Autisten oft wortwörtlich“, erklärt Daniela Ursel. Das Sprachverständnis sei viel konkreter gestrickt, Ironie oder Sarkasmus verstehen die meisten nicht. Das führt im Alltag zu Missverständnissen und Überforderung. „Ich weiß oft nicht, wie ich reagieren soll“, sagt List. Seit drei Semestern studiert der 21-Jährige an der Julius-Maximilians-Universität, besucht Vorlesungen und nimmt an praktischen Übungen teil. Die Zusammenarbeit mit seinen Kommilitonen kostet ihn viel Kraft. „Ich traue mich nicht, etwas zu sagen“, gesteht er und fügt hinzu: „Manchmal tue ich etwas, ohne es den anderen mitzuteilen.“ Seine Teammitglieder fühlten sich dann vor den Kopf gestoßen.
Damit die Gruppenarbeiten funktionieren, steht ihm eine Kommilitonin beiseite, die ihm die Schwerbehindertenbeauftragte der Uni vermittelt hat. Die Studentin beantwortet Fragen, erklärt Abläufe und springt ein, wenn es Probleme in der Kommunikation gibt. Und die gebe es häufig. Oft reagierten die Mitstudenten mit Unverständnis auf sein Verhalten, da sie nichts von seiner Diagnose wissen. „Ich teile viel zu selten mit, dass ich Autist bin“, sagt er nach einer langen Pause. Es sei ihm unangenehm. Noch immer.
Doch trotz allem hat er beschlossen, zu Hause auszuziehen, zu studieren, Neues auszuprobieren. Tag für Tag stellt er sich seinen Herausforderungen – eine davon ist das Mittagessen. Wie Hunderte Würzburger Studenten geht der 21-Jährige zwischen den Vorlesungen in die Mensa am Hubland. Doch während die anderen über die Uni quatschen und Tratsch austauschen, sucht sich der junge Mann ein abgelegenes Plätzchen. Er sehnt sich nach Ruhe und Einsamkeit, einem Raum ohne Störungen und ohne Druck. „Es macht mir einiges aus, dass so viele Leute da sind“, sagt er zaghaft.
Außerhalb der Uni ist der Hesse gerne für sich. In seinem Zimmer im Studentenwohnheim hat er ein eigenes Bad und eine eigene Küche. „Enge Freunde habe ich momentan nicht“, sagt List und blickt durch seine markante Brille an die Wand. Auch eine Freundin habe er nie gehabt, fügt er schnell hinzu, als ob er die Frage schon öfters gehört habe. „So richtige Freundschaften können bei mir nicht entstehen.“ Die engste Bindung habe er zu seinen Eltern und der sechzehnjährigen Schwester, die er an den Wochenenden besucht. „Zu Hause fühle ich mich wohl, da geht alles seinen gewohnten Gang.“
Um sich auf das Berufsleben vorzubereiten, nimmt der Student an einem sozialen Kompetenztraining teil. Hier übt er gemeinsam mit anderen Autisten Alltägliches wie den richtigen Händedruck, Small Talk oder den Aufbau von Blickkontakt. „Ich muss noch viel lernen, damit ich mit anderen kommunizieren kann“, sagt Niklas List über sich selbst. Doch der 21-Jährige bleibt dran, geht jeden Tag einen kleinen Schritt, um seinem großen Wunsch näherzukommen: „Ich will irgendwann ganz alleine zurechtkommen.“