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Rottendorf
Was die Berliner Politik von Rottendorf lernen kann: Clemens Tangerding und die Kluft zwischen Großstadt und Dorf
Viele Jahre reiste Clemens Tangerding mit beklemmendem Gefühl in seine Heimatgemeinde Rottendorf. Im Interview erklärt der Historiker und Autor, wie sich das geändert hat.
Clemens Tangerding am Bahnhof seiner Heimatgemeinde Rottendorf. In seinem Buch 'Rückkehr nach Rottendorf' diskutiert der Historiker über Wege, wie sich die gesellschaftliche Spaltung überwinden lässt.
Foto: Thomas Obermeier | Clemens Tangerding am Bahnhof seiner Heimatgemeinde Rottendorf. In seinem Buch "Rückkehr nach Rottendorf" diskutiert der Historiker über Wege, wie sich die gesellschaftliche Spaltung überwinden lässt.
Michael Czygan
 |  aktualisiert: 19.10.2024 09:10 Uhr

Das ungute Gefühl, mit dem der Historiker Clemens Tangerding jahrelang in seine Heimat, die Würzburger Stadtrandgemeinde Rottendorf, zurückkam, hat er mittlerweile überwunden. Tangerdings lesenswertes Buch "Rückkehr nach Rottendorf" ist ein Plädoyer dafür, in der gesellschaftlichen Debatte zu Themen von Migration bis Corona mehr auf die Erfahrungen der Menschen in Dörfern und Gemeinden wie Rottendorf zu hören.

Clemens Tangerding ging in Münsterschwarzach zur Schule, er studierte in Göttingen und Münster, promovierte in Dresden und Paris und lebte dann viele Jahre in Berlin. 2019 zog er mit seiner Familie nach Luckenwalde in Brandenburg.

Zuletzt arbeitete der 47-jährige freiberufliche Historiker in einem preisgekrönten Projekt mit Bürgerinnen und Bürgern vor Ort die NS-Zeit in 14 Dörfern und Kleinstädten auf. Seine Erlebnisse mit den Beteiligten von St. Georgen im Schwarzwald bis Heynitz in Sachsen - mit "Rechten, Linken und anderen normalen Leuten", wie es im Untertitel heißt - schildert er im aktuellen Buch.

Im Interview würdigt Tangerding den Pragmatismus und die Kompromissfähigkeit vieler Entscheidungsträger abseits der Ballungsräume. 

Frage: Herr Tangerding, Ihr Buch heißt "Rückkehr nach Rottendorf". Wir treffen uns hier. Was bedeutet Ihnen der Ort?

Clemens Tangerding: Ich bin hier groß geworden, meine alten Eltern leben hier. Inzwischen bedeutet mir Rottendorf wieder sehr viel.

Sie schreiben, viele Jahre seien Sie mit einem beklemmenden Gefühl nach Rottendorf gereist. Was hat sich denn verändert?

Tangerding: Ich musste erst viele andere Orte in Deutschland kennenlernen, um das, was ich in Rottendorf erlebt habe und erlebe, würdigen zu können. Jahrelang bin ich aus Berlin gekommen – und hatte schnell das Gefühl, ich muss wieder weg. Alles ist so eng, die Leute sind so engstirnig. Ich war froh, wenn ich in Würzburg wieder in den Zug steigen konnte.

Und heute?

Tangerding: Ich habe in den letzten Jahren ganz viele Menschen kennengelernt, die sich für die Gemeinschaft engagieren, obwohl sie in Dörfern wie Rottendorf leben. Ich habe mich gefragt: Wie kann das sein, warum sind die so glücklich?

Wie kann das sein?

Tangerding: Ich glaube, dass sie etwas haben, was ich als weggezogener, liberaler Großstädter lange nicht gesehen habe. Diese Menschen schaffen es, auch manchmal komplizierte Beziehungen zu Eltern, Geschwistern, Freunden und Nachbarn in ihren Alltag zu integrieren. Da gibt es ritualisierte Treffen: Zum Beispiel hole ich jeden Sonntag den Vater oder die Oma zum Mittagessen ab oder einmal die Woche treffe ich meinen Bruder beim Sport. Das Miteinander ist Normalität. Ich und viele in meinem Freundeskreis haben hingegen jedes Mal, wenn wir zurückkamen, überlegt: Wie lange bleiben wir? Übernachten wir bei Freunden oder den Eltern? Normalität konnte so nicht entstehen.

"Holzmachen geht viel schneller wieder als reden."
Clemens Tangerding, Historiker
Woran liegt das?

Tangerding: Ich dachte immer, mein Instrumentarium, um zu kommunizieren, ist die Sprache. Ich habe lange darauf gewartet, dass ich mit meinen Eltern über Dinge, die in meiner Kindheit oder Jugend geschehen sind, worunter ich gelitten habe, nochmal reden kann, dass es das entscheidende Gespräch gibt. Die Leute auf dem Land, die ich kennengelernt habe, nutzen andere Instrumentarien als die Sprache, zum Beispiel die Handkreissäge. Die bauen bei den Eltern den Dachboden aus, reparieren die Dämmung oder erneuern die Fugen im Bad. Ritualisierte Treffen und praktisches Miteinander: Wenn man beides zusammennimmt, dann kann der Kontakt zu Eltern und Geschwistern dauerhaft funktionieren. Ich selbst habe mir diese Erfahrung inzwischen zunutze gemacht. Wenn es mal spannungsvoll ist zwischen meinen Eltern und mir, merke ich jetzt: Holzmachen geht viel schneller wieder als reden.

Clemens Tangerding ist ein engagierter Streiter wider die Spaltung der Gesellschaft.
Foto: Thomas Obermeier | Clemens Tangerding ist ein engagierter Streiter wider die Spaltung der Gesellschaft.
Sie sagen, viele politische Debatten gingen an der Lebenswirklichkeit der Menschen vorbei. Sie unterscheiden Debattenräume, die in den großstädtischen Milieus vorherrschen, von Erfahrungsräumen, die das Leben in den Dörfern bestimmen.

Tangerding: Natürlich macht man auch in der Großstadt Erfahrungen. Aber dort sitzt die Politik, sitzen die Entscheidungsträger. So verbinde ich Debatten eher mit Großstädten als mit Dörfern wie Rottendorf. Wenn ich mir im Netz einen Ausschnitt aus einer Talkshow mit Robert Habeck ansehe, dann äußern sich darunter viele Leute, die den Auftritt gut finden, andere finden ihn schlecht. Dann sehe ich das Video aus einer Talkshow mit Alice Weidel. Das finden andere Leute gut, wiederum andere schlecht. Eine Zeit lang habe ich gedacht, ich kann mir auf diesem Weg eine Meinung bilden. Ich habe aber schnell gemerkt, dass es so nicht funktioniert. Das ist der Debattenraum, in dem ich mich bewege.

Und der Erfahrungsraum?

Tangerding: Für unser Projekt zur Aufarbeitung der NS-Zeit wollten wir in Gießen einen Stand in Form eines Würfels errichten, in dem das Video mit einem Holocaust-Überlebenden gezeigt werden sollte. Dazu haben wir einen Überwurf gebraucht. Mir fiel ein, dass schräg gegenüber von meinen Eltern in Rottendorf eine Schneiderin wohnt. Ich habe dort geklingelt und ihr mein Problem erklärt. Sie hat gesagt, so etwas habe sie noch nie gemacht, aber okay: das mach' ich. Um den fertigen Stand ins Auto zu verladen, hat mir ein Nachbar geholfen. Und in Gießen am Kirchplatz kamen Schülerinnen und Schüler mit Akkuschrauber und Schrauben – und haben den Stand aufgebaut und den Überwurf von der Rottendorfer Schneiderin drübergelegt. Das ist der Erfahrungsraum. Das ist der Raum, in dem Menschen tatsächlich etwas tun, füreinander einstehen. Sie werden auch mal diskutieren, aber sehr konkret darüber, wie man ein Problem löst.

"Früher habe ich Vereine innerlich abgewertet."
Clemens Tangerding, Historiker
Sie würdigen in diesem Zusammenhang die Vereinskultur.

Tangerding: Früher habe ich Vereine innerlich abgewertet. Mittlerweile habe ich durch meine Projektarbeit so viele Menschen kennengelernt, die sich in Vereinen engagieren und gemeinsam ganz viel auf die Beine stellen. Aktive Vereinsvorstände genießen häufig mehr Vertrauen in den Dörfern als der Bürgermeister.

Menschen, die sich in Vereinen engagieren, reden weniger, sondern machen einfach.

Tangerding: Im Debattenraum gibt es diese Machen-Ebene in der Regel nicht. In einer Caren-Miosga-Talkshow oder einer akademischen Konferenz müssen sich die Menschen auf überhaupt nichts einigen. Aber die Vorsitzenden der Vereine in einem Dorf wie Rottendorf, die müssen immer wieder miteinander klarkommen, auch wenn es mal Konflikte gibt. Dieser Pragmatismus und diese Kompromissfähigkeit, da können politische Debatten enorm von lernen. Es geht nicht um den Einzelnen. Man erlebt es als etwas Positives, wenn etwas gemeinsam auf die Beine gestellt wird, ein Projekt oder ein Fest.

Was aber tue ich, wenn sich der Kollege im Sport- oder im Musikverein als AfD-Sympathisant entpuppt?

Tangerding: Ich empfehle, niemanden von vorneherein zu verurteilen. Wenn der Kollege sagt, in Rottendorf leben zu viele Ukrainer und die bekommen alle Bürgergeld, dann würde ich sagen: Lass uns gemeinsam nachforschen, wie viele Ukrainer leben hier und wie viele bekommen tatsächlich Bürgergeld. Wenn man das recherchiert hat, kann man immer noch unterschiedlicher Meinung sein, aber es gibt eine gemeinsame Basis. Ich möchte nie eine Tür komplett schließen...

Brandmauern sind also kein gutes Konzept?

Tangerding: Ich habe zwei Probleme mit dem Prinzip Brandmauer. Erstens: Wir haben das jetzt mehrere Jahre praktiziert, aber die Zustimmungswerte für die AfD sind nicht weniger geworden. Im Gegenteil. Es hat also nicht funktioniert. Zum Zweiten ist es mein Verständnis von Demokratie: Wenn ganz viele Menschen eine Partei wählen, deren Ziele und Werte ich ablehne, muss ich doch mit ihnen sprechen, um sie zu überzeugen, damit sie diese Partei künftig nicht mehr wählen. Ich verstehe nicht, wie das gehen soll, wenn ich Mauern aufbaue - und jeglichen Kontakt verweigere. Ich glaube nicht, dass Brandmauern zum Ziel führen.

"Die Begriffe Hass und Hetze werden mir zu inflationär gebraucht."
Clemens Tangerding, Historiker
Wo sind die Grenzen des Dialogs?

Tangerding: Selbst, wenn jemand Beleidigungen äußert, versuche ich, ein Gespräch nie komplett zu beenden, sondern es auf eine Ebene zu lenken, auf der man wieder miteinander reden kann. Nicht jede, auch noch so harte andere Meinung ist gleich Hetze. Die Begriffe Hass und Hetze werden mir zu inflationär gebraucht.

Haben wir verlernt, solche harten Meinungen auszuhalten?

Tangerding: Ich glaube, dass der Verurteilungsdruck oft sehr stark ist. Haltungen, Empörungen und Verurteilungen sind wichtiger als die Auseinandersetzung mit Fakten. Das ist ein Riesenproblem. Wir bekommen leider auch von Parteien, Medien und zivilgesellschaftlichen Organisationen nur selten konstruktive Debatten vorgelebt. Es mangelt an der Bereitschaft, auch gegenteilige Meinungen oder der eigenen Überzeugung widersprechende Erfahrungen zu würdigen. Wenn es dort nicht gelingt, wie sollen es dann die Bürgerinnen und Bürger lernen. Ich denke da zum Beispiel an die Aufarbeitung unseres Umgangs mit Corona.

Was vermissen Sie da?

Tangerding: Ich hätte nicht gedacht, was für ein Misstrauen, was für eine Wut viele Menschen entwickelt haben. Das hat etwas damit zu tun, dass auch hier die Debatten nichts, aber auch gar nichts mit den Erfahrungen der Menschen zu tun haben. Ich selbst war ein absoluter Musterschüler, ich bin dreimal geimpft und habe mich an alle Regeln gehalten – und empfand alle, die das nicht getan haben, als unsolidarisch. Ich hatte eine klare Einteilung in Gut und Böse. Auf dem Land, speziell im Osten, gab es auch eine Einteilung, aber eine andere.

Welche?

Tangerding: Da gab es diejenigen, die sich gekümmert haben, die weiterhin die Alten und Kranken besucht haben, und zwar vollkommen unabhängig davon, ob sie geimpft waren oder nicht. Und auf der anderen Seite diejenigen, die sich nicht um ihre Angehörigen gekümmert haben. Mir ist es richtig schwergefallen, diese Erfahrung von Andersdenkenden in meinen eigenen Erfahrungsraum zu integrieren.

"Erst einmal müssen wir einander zuhören."
Clemens Tangerding, Historiker
Was folgt daraus?

Tangerding: Erst einmal müssen wir einander zuhören. Es ist ein Problem, dass wir uns zu wenig unsere Erfahrungen erzählen und die Verschiedenheit dieser Erfahrungen akzeptieren. Nur dann kann es eine Versöhnung geben. Ich wünschte mir, dass die Politik, aber auch die Medien zeigen, wie Versöhnung gelingen kann. Wir brauchen dringend positive Beispiele, um die vielfach diagnostizierte Spaltung der Gesellschaft zu überwinden.

Das Buch: Clemens Tangerding, "Rückkehr nach Rottendorf. Von Rechten, Linken und anderen normalen Leuten" , erschienen im Verlag C.H. Beck, 224 Seiten, 18 Euro, E-Book 12,99 Euro.

Veranstaltungen: Auf seiner Lesereise kommt Clemens Tangerding im nächsten Jahr auch in die Region. Am 20. März 2025 stellt der Historiker sein Buch in Würzburg im Generationenzentrum Matthias-Ehrenfried im Gespräch mit dem katholischen Weihbischof Paul Reder vor. Am 21. März liest und diskutiert Tangerding in der Bücherei seiner Heimatgemeinde Rottendorf.

 
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