
Eine Espressobar gründen? Auch die Freunde raten ab. Warnen vor einer Fehlinvestition. „Wenn du Geld in eine Espressobar steckst, bist du verrückt“, sagen sie. Kaffeeläden hätten doch wohl keine Zukunft. Kaffee könne man zu Hause oder im Büro trinken. Wie gesagt: Es ist das Jahr 1995.
Aber Robert Wilhelm aus Würzburg hat sich die Espressobar nun mal in den Kopf gesetzt. Er hat zwar nicht Gastronom gelernt, sondern Architektur studiert, was für einen Wirt sicher nicht die optimale Voraussetzung ist. Aber Wilhelm ist mit Anfang dreißig schon Betreiber einer beliebten Würzburger Bar, dem Brazil. Einen Biergarten, eine Disco und ein Café hat er auch schon geführt. Er weiß also, wie Gastronomie geht; und er hat sich in Nürnberg die erste deutsche Espressobar Deutschlands angeschaut. Was in Nürnberg funktioniert, funktioniert auch in Würzburg – diese Hoffnung hegt er.
1995 sitzen die Leute in Cafés noch. Die alten Damen im Dom-Café; das Kännchen Kaffee vor sich, den guten Mantel sauber am Haken aufgehängt. Die Studenten im Café Journal, im Klug oder im Uni-Café; stundenlang sitzen sie vor einer großen Tasse Milchkaffee – das Studium ist da noch langsam; die schnellen, verschulten, auf Präsenzpflicht setzenden Bachelor-Studiengänge sind noch nicht erfunden. Soll heißen: Die Leute, die sich in Cafés treffen, haben Zeit. Und diejenigen, die keine Zeit haben, gehen nicht zum Kaffeetrinken.
Trotzdem, denkt sich Wilhelm. Als in der Würzburger Innenstadt am Schmalzmarkt ein kleines, schmales Ladenlokal frei wird, das aussieht, als könne es zur Espressobar mutieren, unterschreibt Wilhelm den Mietvertrag. Und eröffnet zwischen Dom und Markt 1995 die dritte Espressobar Deutschlands, die erste Espressobar Würzburgs: das Lavazza. Ganz was Neues, Modernes, so ein Stehcafe, zumindest für Würzburg. Langgezogene Theke. Barhocker. Den Mantel lassen die Gäste an. Für den schnellen Espresso. Und für die Zigarette dazu.
Für den Espresso mahlt Wilhelm den Kaffee – und zwar je nach Luftdruck mehr oder weniger fein. Hängt dann das Kaffeesieb aus, klopft es aus, füllt das Espressomehl auf. Presst dann das Mehl, so dass das Kaffeewasser genau achtzehn Sekunden braucht, um durchzulaufen. Hängt das Sieb wieder in die Maschine ein, stellt das Tässchen drunter. Der Espresso, den Wilhelm verkauft, schmeckt anders als Bürokaffee, anders als Kännchenkaffee. Und man muss nicht vorher beim Italiener Essen gehen, um ihn zu bekommen. Die Gäste kommen und zahlen, erst in Mark, dann in Euro. Der Laden läuft. Und Robert Wilhelm kann von sich behaupten, den Megatrend der Gastronomie der letzten Jahre als einer der ersten Deutschen erspürt zu haben: vom Kaffeehaus zum Stehcafé. Vom Einheits-Filterkaffee für alle zu Espresso doppio für den einen, Cappuccino für den anderen und Espresso macchiato mit Sojamilch und Sandwich für den dritten. Den Trend vom Nachmittagskaffee, der auf Stunden angelegt ist, zur Kaffeepause, die sich in Minuten misst.
Siebzehn Jahre später trinkt jeder Kaffee, jederzeit, überall. Im Würzburg im Januar 2012, auf den paar Quadratmetern zwischen Kürschnerhof und Marienkirche, sieht man: dünne Schülerinnen in Leggins, die eine Hand am Handy, die andere am Kaffeebecher. Mütter; Hand am Pappbecher, die andere am Kinderwagen. Frierende Raucher mit Espressotasse vor Lavazza. Im Lavazza Cappuccino-Trinker am Handy, am Laptop, mit Kreuzworträtsel. Was ist nur passiert in siebzehn Jahren? Warum brauchen wir immerzu den schnellen Kaffee?
Weil das Leben so hart und hektisch geworden ist in den letzten Jahren, deshalb. Das sagt jedenfalls Gretel Weiß, die in Frankfurt die Gastronomie-Zeitschrift „foodservice“ leitet. Bei Kaffee kennt sich die Chefredakteurin aus; beim 2. Deutschen Kaffeekongress in Wiesbaden Ende Januar hat sie gerade eines der Hauptreferate gehalten. Weiß redet, wenn sie erklären will, was der schnelle Kaffee für uns bedeutet, erstmal nicht über Kaffee, sondern über: Handys. Laptops. Flexible Arbeitszeiten. Entwirft das Bild des gehetzten, ständig mobil erreichbaren Multitaskers, der den ganzen Tag unruhig unterwegs ist, getrieben von Aufträgen, belastet von dem Druck, immer und überall ansprechbar zu sein, immer und überall zu funktionieren. „Unsere Welt hat sich in den letzen paar Jahren so stark geändert, ist immer schneller geworden – und nichts passt besser in diese Welt als der schnelle Kaffee. Er ist direkt symbolisch für unsere Zeit“, sagt Weiß. Lange Mittagspausen mit schwerem Essen könne sich kaum ein Büroarbeiter mehr leisten. Alkohol und Nikotin im Büro – früher akzeptierte Entspannungsgifte – seien mittlerweile tabu.
„Deshalb der Kaffee in der Mittagspause – der ist unsere dringend benötigte Auszeit von den Baustellen des Alltags. Seelisch sind die Stehcafés Aufwärmplätze, Pausenplätze, Rückzugsplätze.“ Wer seinen Kaffee im Pappbecher mitnimmt, der nimmt sich ein bisschen Wärme in einer kalten Welt mit, glaubt Weiß. Und wer sich als unbedeutendes Rädchen in einer anonymen Arbeitsmaschinerie begreift, der legt wenigstens beim Coffee to go Wert drauf, als ganz besondere, ganz individuelle Persönlichkeit wahrgenommen zu werden. Will gesehen werden als die „Weißer-Cappuccino-mit-Sojamilch-und-Caramelflavour-Person.“ Ist ja was anderes als die „Großer-Schoko-Cappuccino-mit-Extra-Schokolade-Persönlichkeit“.
Haben wir da gerade den aus Amerika importierten Begriff „Coffee to go“ gehört? Haben wir von Pappbechern geredet? Da windet sich Robert Wilhelm. Sein „Lavazza“ hat er aufgemacht, weil er für italienische Kaffeekultur stand und stehen will. Zur Kaffeekultur gehören für ihn das Wissen um die richtigen Bohnen, das Wissen um verschiedene Röstverfahren, das nur Eingeweihten verständliche Mahlen des Kaffeemehls je nach Wetter, das Wissen darüber, welcher Kaffee in welchem Behältnis am besten schmeckt. Espresso im Tässchen, aus frisch gemahlenen Bohnen – das ist Kaffeekultur für ihn. Cappuccino aus dem Pappbecher, gemacht vom Vollautomaten – das ist keine Kultur. „Kaffee schmeckt nur in Tassen gut“, glaubt Wilhelm. Aber so wie er mit seinem Stehcafé einst die Leute in den Sitzcafés hat alt aussehen lassen, so überholen ihn, den Mann mit der Espressokultur, die Leute mit der Coffeeshop-Philosophie.
In Coffeeshops wird der Kaffee üblicherweise vom Vollautomaten gemacht, nicht von Hand – weshalb Coffeeshops weniger Mitarbeiter brauchen. Der Coffeeshop-Kaffee kommt ausschließlich in Pappbechern: Das Einsammeln und Spülen von Tassen und Untertassen entfällt also. Wieder weniger Personal. Können Coffeeshops deshalb mehr Umsatz, mehr Gewinn machen als Espressobars?
Darüber muss man mit einem Espressobarbetreiber nicht reden, natürlich nicht. Aber über Kaffeemengen kann man reden.
1995, sagt Wilhelm, habe er 1500 Kilo Kaffee eingekauft und verkauft. In Form von Espresso und Cappuccino.
2000 hat er 5000 Kilo Kaffee eingekauft und verkauft.
2011 hat er wieder pro Jahr 1500 Kilo Kaffee verkauft.
Die Konkurrenz, sie schläft halt nicht. Seit den ersten Jahren des letzten Jahrzehnts bemühen sich viele darum, mit schnellem Kaffee Geld zu machen. Jede Bäckereifiliale verkauft Coffee to go; jeder Schnellimbiss, jede Tankstelle, auch die Buchhandlung. Die Nachfrage nach tragbarem Kaffee steigt stetig, die Zahl der Anbieter aber halt auch.
In Wilhelms Espressobar gibt es jetzt übrigens auch Pappbecher. Allerdings nur auf ausdrücklichen Wunsch.