
Sie wird in der eigenen Wohnung überfallen, brutal niedergeschlagen, geknebelt, mit Klebeband umwickelt und mit einem Elektrokabel am Türgriff erhängt. Geschäftsfrau Waltraud Ess aus Bad Neustadt ist erst 51 Jahre alt, als sie in der Nacht vom 7. auf den 8. September 1993 einem grausamen Verbrechen zum Opfer fällt. Bis auf 3500 D-Mark machen die Unbekannten bei der Geschäftsführerin des damaligen Autohauses Kuhn keine Beute. Schmuck und Tresorschlüssel bleiben unangetastet. Die Wohnung wird nicht durchwühlt. Wurden die Täter gestört? Oder ist Waltraud Ess einer Beziehungstat zum Opfer gefallen? Diese Fragen beschäftigen auch 22 Jahre nach dem grausamen Verbrechen die Kriminalpolizei in Schweinfurt.
Waltraud Ess ist gerade aus dem Urlaub zurückgekommen, sie hat entspannte Ferien mit ihrem Lebensgefährten, einem Lehrer aus der Oberpfalz, in Griechenland verbracht. Die große, sportliche Frau ist braun gebrannt und gut gelaunt, als sie am Abend des 7. September die Weinstube Dörr in Bad Neustadt betritt. „War die lustig“, wird sich die Wirtin noch Jahre später an den Abend erinnern, an dem sie Waltraud Ess das letzte Mal lebend gesehen hat. Die Geschäftsfrau trifft sich dort regelmäßig zum Stammtisch mit ihren Freundinnen. Die Frauen haben sich viel zu erzählen, die Stimmung ist ausgelassen.
Erst kurz vor Mitternacht löst sich die Runde auf. Waltraud Ess macht sich auf den Heimweg. Ihr Haus steht ein wenig abgelegen neben dem damaligen Autohaus Kuhn in der Schweinfurter Straße. Es gibt keine direkten Nachbarn, aber viel Durchgangsverkehr. Zwei Tankstellen flankieren das Gelände, eine davon ist bis 22 Uhr abends geöffnet. Angst hat die 51-Jährige offenbar nicht. Waltraud Ess wird als kräftig, resolut und selbstbewusst beschrieben. Gerade baut sie in der Altstadt von Bad Neustadt ein neues Haus, weil sie sich – wie es heißt – ein gemütlicheres Umfeld wünscht. Den Einzug erlebt die Geschäftsfrau nicht mehr.
Während Waltraud Ess mit ihren Freundinnen einen unbeschwerten Abend verbringt, steigen zwei oder drei Unbekannte – so ergeben es die Ermittlungen – im Schutz der Dunkelheit über die Balkonbrüstung in ihre Wohnung ein. Im Flur warten sie bereits auf ihr Opfer. Arglos öffnet Waltraud Ess ihre Haustür und wird sofort heftig attackiert. Die Täter schlagen mit brutaler Gewalt auf die Frau ein. Abwehrverletzungen am Kopf und an den Händen der Leiche deuten darauf hin, dass sich Waltraud Ess verzweifelt gegen ihre Angreifer gewehrt haben muss. Aber gegen die massiven Schläge und Tritte, die mit voller Wucht auf sie einprasseln, hat die dreifache Mutter keine Chance.
Die Unbekannten überwältigen sie, knebeln und fesseln sie mit einem gut vier Zentimeter breiten, handelsüblichen Klebeband. Mehrfach umwickeln sie ihr Opfer an Kopf, Händen und Füßen. Auch Nase und Mund werden überklebt. Ob Waltraud Ess daran stirbt oder erst, als die Täter noch zu einem Elektrokabel greifen, es ihr um den Hals schlingen und sie an einem Türgriff im Korridor ihrer Wohnung aufhängen, kann nicht abschließend geklärt werden. „Vielleicht sollte sie einfach ruhiggestellt werden, und hat dann nicht mehr atmen können. Das ist ein mögliches Szenario“, sagt Erster Kriminalhauptkommissar Herbert Then.
Der Lebensgefährte von Waltraud Ess versucht am nächsten Tag mehrfach, seine Freundin telefonisch zu erreichen. Als sie ihn bis zum nächsten Morgen immer noch nicht zurückgerufen hat, beginnt er, sich Sorgen zu machen. Der Mann alarmiert schließlich den Sohn der 51-Jährigen, der im benachbarten Autohaus arbeitet. Er macht sich nach dem Anruf sofort auf den Weg zur Wohnung seiner Mutter und entdeckt die grausam zugerichtete Leiche.
Der Mord löst Entsetzen in Bad Neustadt aus. „Die Brutalität, mit der in diesem Fall vorgegangen wurde, hat die Ermittler damals erschüttert. Das war ein absolutes Übertöten“, erinnert sich Kriminalhauptkommissar Jürgen Hept. Das Rätselraten um das Motiv beginnt. Denn die Unbekannten nehmen zwar – so kann später rekonstruiert werden – 3500 D-Mark aus der Urlaubskasse des Opfers mit.
Den Schmuck von Waltraud Ess lassen sie ebenso zurück wie den Tresorschlüssel. Auch die Wohnung scheint nicht durchwühlt. Schränke und Schubladen wirken unangetastet. „Letztlich konnte aber niemand genau sagen, welche Objekte sich in der Wohnung befunden haben, da Frau Ess ja allein gelebt hat“, erklärt Then. Im Umfeld der 51-Jährigen kommen immer wieder Gerüchte auf, es könne sich um einen Mord aus persönlichen Gründen handeln. Ein abgewiesener Liebhaber vielleicht, auch über Verbindungen zur Mafia und zu Autoschiebern wird spekuliert. Die Hintergründe der Tat bleiben im Dunkeln. „Die Ermittlungen im näheren Umfeld haben nichts ergeben, vieles spricht daher für einen Einbruch“, sagt Then.
Die 24-köpfige Sonderkommission findet – trotz aller Bemühungen – keine heiße Spur. Erst Jahre später kommt wieder Bewegung in den Fall, als die Polizei Parallelen zu einem Verbrechen in Flensburg entdeckt. Immobilienmakler Udo Franke wird am 18. Juli 1994 in seiner Wohnung überfallen worden – wie Waltraud Ess niedergeschlagen, mit Klebeband umwickelt und stranguliert. Nur wenige Tage nach dem Verbrechen wird eine siebenköpfige Bande ermittelt, die aus sechs Rumänen und einem Deutschen besteht.
1995 wird Herrmann L. vom Schwurgericht in Flensburg mit zwei Mittätern wegen schweren Diebstahls und Raubes mit Todesfolge zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Die Ermittler messen der Spur besondere Bedeutung bei, da Mitglieder der Bande in einem Wohnheim nur 45 Minuten von Bad Neustadt entfernt gelebt haben. Dann erhärtet sich der Verdacht. 1998 gibt ein 22-jähriger Rumäne in einem anderen Prozess zu Protokoll, dass L. ihm gegenüber den Mord an der Bad Neustädter Geschäftsfrau gestanden habe.
Die Ermittler holen den damals 30-Jährigen aus dem Gefängnis zum Verhör nach Schweinfurt. Er habe sich die Vorwürfe angehört, „nicht mehr und nicht weniger“, berichtet der damalige Oberstaatsanwalt Karl-Eugen Bauner von der Befragung. Der Verdacht gegen L. lässt sich trotz der großen Parallelen nicht weiter erhärten. Und die Aussage des 22-Jährigen reicht nicht aus, um Anklage zu erheben.
Auch ein Beitrag in der Sat.1-Sendung „Fahndungsakte“ liefert den Ermittlern keine neuen Anhaltspunkte. Das Format des Privatsenders war als Pendant zu der ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY ungelöst“ angelegt und wurde von 1997 bis 2000 ausgestrahlt. Eine Berliner Produktionsfirma drehte an Originalschauplätzen in Bad Neustadt, stellte den Einbruch nach und den Abend, den Waltraud Ess mit ihren Freundinnen verbracht hat.
22 Jahre nach der Tat setzen die Ermittler vor allem auf die DNA-Technik, die sich noch einmal weiterentwickelt hat. „Wir haben jedes Stückchen Klebeband aufgehoben und noch weitere Spuren zur Untersuchung auf Halde. Wir geben nie auf“, so Then. Die Hoffnung stützt sich außerdem auf mögliche Mittäter, die an der Tötung von Waltraud Ess möglicherweise nicht direkt beteiligt waren, und sich in der Zwischenzeit vielleicht jemandem anvertraut haben.
Wer kann der Kripo mit Zeugenaussagen
weiterhelfen? Hinweise an die Kripo unter
Tel. (0 97 21) 202-17 31