Es ist spät geworden bei der Verabschiedung des Schweinfurter Landrats Dr. Georg Burghard und der Amtseinführung seines Nachfolgers Karl Beck am Montag, 31. Januar 1977, in der Aula der heutigen Heideschule des Landkreises in Schwebheim. Der neue Tag ist bereits angebrochen, als sich die letzten der 200 Gäste auf den Nachhauseweg begeben.
Unter denen, die bis zum Schluss ausgehalten haben, ist der Bürgermeister von Zeilitzheim (Lkr. Schweinfurt) und SPD-Kreisrat Franz Räth. Man beobachtet noch, wie der 53-jährige Landwirt in seinen roten VW Golf steigt und davonfährt. Es ist das letzte Mal, dass der Landwirt gesehen wird. Er kommt nie daheim an. Räth und das Auto mit dem Kennzeichen SW – AX 434 bleiben bis heute spurlos verschwunden. Es ist eines der großen Rätsel im hiesigen Raum.
Bei Tagesanbruch startet die Polizei in Schweinfurt eine groß angelegte Suchaktion. Polizisten durchkämmen die Wälder zwischen Schwebheim und Zeilitzheim und nehmen den Main und angrenzende Gewässer ins Visier. Ebenso wird Räths Aussiedlerhof am Ortsausgang nach Gaibach auf den Kopf gestellt. Ein Polizeihubschrauber fliegt obendrein dreieinhalb Stunden lang das infrage kommende Gebiet ab. Einziger Anhaltspunkt ist eine im Schnee entdeckte Fahrzeugspur, die zu einem Fischteich zwischen Hirschfeld und Heidenfeld führt. Aber erst als das Eis weggeschmolzen ist, kann man mit der Suche beginnen und das Dienst-Schlauchboot zu Wasser lassen, erinnert sich der langjährige Schweinfurter Wasserschutzpolizist Wolfgang Scholz.
In Teichmitte kann ein größerer metallener und hohler Gegenstand geortet werden. Die Ausmaße entsprechen in etwa denen eines Pkw. Rückfragen beim Fischereiverein ergeben jedoch, dass es sich um die Karosserie eines Kleinwagens handelt, den man als Laichplatz für die Fische eingebracht hatte.
Da es keine Anzeichen für ein Verbrechen gibt, nimmt die Polizei weiter als wahrscheinlichsten Grund für Franz Räths Verschwinden an, dass er auf der Heimfahrt mit seinem Pkw in den Main oder ein Gewässer längs des Flusses geraten und ertrunken ist.
Die Annahme leuchtet ein, wenn man davon ausgeht, dass Räth von Schwebheim aus über Röthlein, Heidenfeld, Hirschfeld, St. Ludwig, Stammheim und Fahr bis Volkach und von dort über Gaibach nach Zeilitzheim heimfahren wollte. Die Strecke führt immer wieder relativ nah am Fluss vorbei.
Im Dorf wird ob des mysteriösen Verschwindens von Franz Räth viel erzählt und getuschelt. Die Gerüchteküche brodelt.
Dann, im August 1978 eine vermeintlich erste heiße Spur. In jenem Sommermonat lässt das Wasser- und Schifffahrtsamt Schweinfurt den Rhein-Main-Donau-Durchstichkanal zwischen Volkach und Gerlachshausen ausbaggern, um die nötige Fahrwassertiefe zu garantieren und mögliche Hindernisse für die Güterschiffe zu beseitigen. Dabei stößt man in der Nähe des Hochwasser-Sperrtores bei Gerlachshausen auf mit einem Schneidbrenner zertrennte und hier versenkte Autoteile eines roten Golfs. In Polizeikreisen vermutet man, auf die Reste von Räths Golf gestoßen zu sein und schließt deshalb ein Verbrechen an dem Bürgermeister nicht mehr aus. Die Überprüfung ergibt jedoch, dass die Autoteile phönixrot sind. Der von Franz Räth gefahrene Golf war hingegen mit dem kräftigeren Senegalrot lackiert.
Der Vorfall ist noch kein Jahr her, da unternimmt zu Sommerbeginn 1979 eine Bundeswehreinheit im Raum Obereisenheim Wasserübungen auf dem Main. Dabei wird der schwimmfähige Schützenpanzer M 113 eingesetzt. Die Wasserfahrzeuge der Pioniere befahren auch die Buhnen und kleineren Buchten am Mainufer zwischen Stammheim und Fahr. Hier entlang verläuft die Straße, auf der Franz Räth wohl unterwegs war.
Bald danach treibt Ende Juni 1979 in der Nähe des Volkacher Campingplatzes Ankergrund – er liegt direkt am Main unterhalb der berühmten Wallfahrtskirche Maria im Weingarten – ein teilweise skelettierter Unterschenkel samt Socken und Schuh an. Den Schuh ordnen die Angehörigen Franz Räths einwandfrei dem Vermissten zu. Aufgrund des Fundes wird auf dem Main zwischen den Staustufen Wipfeld und Volkach eine intensive Suche nach weiteren Leichenteilen und dem gesuchten Pkw gestartet. Ohne Erfolg.
Es ist um diese Zeit, dass beim Ausbaggern des Flussbetts neben einer der kleineren flachen Ausbuchtungen am linken Ufer bei Fahr mit dem zutage geförderten Sand, Kies und Schlamm ein menschlicher Schädel fast vor die Füße des Mannes im Lastkahn fällt, der die Arbeiten überwacht. Nachdem er den Schock überwunden hat, hebt er den Fund auf. Doch dann erfassen ihn Ekel und Entsetzen. Unten am Schädel hängt das „ganze Geschling“ heraus, wie er sagt. Anstatt ihn zurück in den schon ziemlich mit Aushub gefüllten Lastkahn zu werfen, befördert er den Schädel reflexartig in den Main zurück.
Erst nach einigen Tagen wird der Fund der Polizei bekannt und die zuständige Wasserschutzpolizei in Schweinfurt ersucht, nach dem Schädel zu suchen. Wolfgang Scholz und sein Kollege Horst Schnepf werden mit ihrem Streckenboot zur Fundstelle in Marsch gesetzt. Obwohl beide den Mainabschnitt in beiden Richtungen abfahren und mit dem sogenannten Leichensuchgerät absuchen, das an einer langen Leine mit dem Boot über den Grund gezogen wird, entdecken sie weder Schädel noch andere Leichenteile.
Auch die daraufhin angeforderte Tauchergruppe der Würzburger Bereitschaftspolizei kann den Schädel nicht mehr finden. Wolfgang Scholz erinnert sich: „Der erste Taucher kam bald wieder hoch und verkündete, die Strömung in Grundnähe sei so stark, dass die Kiesel über Grund rollen würden. Er vermutete daher, dass der Schädel längst weiter zu Tal getrieben sei.“ Der Schädel hätte womöglich den Beweis für die Annahme geliefert, dass der schwimmende Panzer mit seinen Ketten das Dach von Räths Golf berührte, so dass die Scheiben herausfielen und die Leiche freigekommen ist.
Da aber außer seinem Schuh und dem skelettierten Unterschenkel keine weiteren Leichenteile auftauchen, kann Räths Identität von der Rechtsmedizin nicht zweifelsfrei geklärt werden. So verstummen auch zehn Jahre nach seinem Verschwinden die Spekulationen über den Verbleib des Bürgermeisters nicht. Ein hartnäckiges Gerücht besagt dabei, er habe sich damals aus unbekanntem Grund in die DDR abgesetzt, sei also nach wie vor am Leben. Neue Nahrung erhält diese Annahme 1987. Ein Zeilitzheimer glaubt, Räth als DDR-Grenzer am Übergang Rudolphstein-Hirschberg an der innerdeutschen Grenze erkannt zu haben.
Die Überprüfung nach Mauerfall und Wiedervereinigung ergibt jedoch, dass an dem Hinweis nichts dran ist. Wieder einmal verlaufen die Nachforschungen im Sande. So schließt die Kripo die Vermisstenakte Räth.
Noch einmal kommt im August 1990 kurzfristig Hoffnung auf, doch Licht in den Fall zu bringen. Erneut wird im Raum Heidenfeld ein rotes Autowrack im Wasser entdeckt. Diesmal in einem von Anglern gepachteten Baggersee in der Nähe des Klosters. Das geborgene Fahrzeug entpuppt sich jedoch als Audi und nicht als Golf. So führt auch die bislang letzte Spur ins Leere.
So könnte es sein, dass immer noch ein längst verrostetes, mit Schlamm überzogenes, einst senegalrot lackiertes Fahrzeugwrack irgendwo im Main oder in einer Seitenbucht seiner Entdeckung harrt und damit der Klärung von Franz Räths Schicksal . . .
Wer kann zur Aufklärung beitragen? Die Polizei setzt auf Zeugen, die mit einem Tipp helfen können, den Fall zu klären. Hinweise an die Kripo Würzburg: Tel. (0 97 21) 2 02 18 21.
Der verschwundene Bürgermeister aus Zeilitzheim
Franz Räth wird am 26. Februar 1923 auf dem Hofgut Wadenbrunn bei Kolitzheim geboren. Nach der Rückkehr aus dem Zweiten Weltkrieg geht der gelernte Werkzeugmacher und Werkzeugfräser 1945 zur Landpolizei.
Im Februar 1949 heiratet er Frieda Deppert aus Zeilitzheim. Mit ihr bewirtschaftet Franz Räth fortan deren elterliche Landwirtschaft. Sein ganzer Stolz ist der 1964 am Ortsausgang zwischen den sich hier gabelnden Straßen nach Gaibach und Zeilitzheim bezogene Aussiedlerhof. Auf dem neuen Grundstück entstehen neben Wohnhaus und Nebengebäuden moderne Stallungen für Rinder und Milchvieh.
Franz Räth leitet den SPD-Ortsverein und engagiert sich in agrarpolitischen Arbeitskreisen in Franken und in München für seinen Berufsstand. Der Vater eines Sohnes und einer Tochter bekleidet zudem das Amt des Vorsitzenden der Flurbereinigungsgenossenschaft in Zeilitzheim und ist sowohl in der Ortskolonne als auch im Kreisverband des Bayerischen Roten Kreuzes sehr aktiv. 1972 wird Franz Räth zum Nachfolger des langjährigen Bürgermeisters Johann Pröschel gewählt. In der Nacht vom 31. Januar auf den 1. Februar 1977 verschwindet er spurlos auf der Heimfahrt von Schwebheim.