Für den Betreiber E.ON war das Atomkraftwerk Grafenrheinfeld (KKG, Lkr. Schweinfurt), das voraussichtlich im Juni seinen Betrieb einstellt, stets sicher. Dennoch sind den Aufsichtsbehörden über 200 Störungen, so genannte „meldepflichtige Ereignisse“ mitgeteilt worden. Sie lassen Interpretationsspielraum für die Frage nach dem sicheren Betrieb.
Welche Kriterien gelten für die so genannten „meldepflichtigen Ereignisse“? Es gibt zwei Kategorien: eine deutsche und eine internationale. Nach bundesdeutschem Recht werden die Störungen des laufenden Betriebs je nach Schwere in Normalmeldung (N; innerhalb von fünf Tagen), Eilmeldung (E; innerhalb von 24 Stunden) und Sofortmeldung (S; unverzüglich) eingeordnet. 1986 hat diese Skala die bisherigen Kategorien C bis A abgelöst.
Auf internationaler Ebene sind die Vorfälle in der Bewertungsskala INES aufgelistet. Die startet mit der Stufe 0, in der man keine oder sehr geringe Auswirkungen für die Sicherheit des Kraftwerks annimmt, und geht über zur Stufe 1, die als „Störung“ klassifiziert ist, wenn es Abweichungen von den zulässigen Bereichen für den sicheren Betrieb der Anlage gibt. Stufe 2 beschreibt einen „Störfall“, bei dem Sicherheitsvorkehrungen ausfallen oder Personal hoher Strahlung ausgesetzt ist. Vom „ernsten Störfall“ der Stufe 3 reicht die Einordnung über den „Unfall“ (4) bis zur Stufe 7, dem „katastrophalen Unfall“, dem die verheerenden Unglücke von Tschernobyl und Fukushima zuzurechnen sind. In Deutschland erreichten nach Auskunft des Bundesamts für Strahlenschutz als Maximum drei Vorfälle die Stufe 2.
Wertet man die jährlichen Berichte des Bundesamts für Strahlenschutz und der zuständigen Ministerien aus, hat das KKG seit Inbetriebnahme vor fast 33 Jahren genau 229 Meldungen abgegeben. Die allermeisten Fälle betrafen die niedrigste Meldestufe und häuften sich vor allem in den Anfangsjahren. Nach altem System gab es acht höherstufige B-Meldungen, ab 1986 zwei der E-Kategorie. Die jüngste stammt aus dem Jahr 2007, bei der der Reaktor nicht abgeschaltet wurde; eine weitere E-Meldung gab es 1989, als ein Sicherheitsventil seinen Dienst versagt hat.
Nach diesen Zahlen gehört das KKG zu den vergleichsweise unauffälligen Kraftwerken in Deutschland. Ebenso zählte Grafenrheinfeld nicht zu den Atommeilern, die unzulässigerweise Radioaktivität abgegeben haben. Die Strahlenbelastung liege im Schwankungsbereich der natürlichen Strahlung, sagt Werksleiter Reinhold Scheuring.
Zudem verweist er auf erfolgreiche periodische Sicherheitschecks 1998 und 2008 sowie auf vier internationale Prüfungen. Auch die Investitionen in Notfallpumpen und zusätzliche Notstromaggregate zählt Scheuring zu den Maßnahmen für eine verbesserte Sicherheit: „Wir haben 33 Jahre hoch qualifizierte Arbeit geleistet und besitzen eine hohe Motivation für einen sicheren Betrieb. Genau das Gleiche gilt auch für die vor uns liegende Rückbauphase.“
Insgesamt sind für alle deutschen Meiler über 6000 Meldungen dokumentiert. Für die Umweltorganisation Greenpeace ist die Zahl Beleg genug für die mangelnde Sicherheit der Anlagen.
Allerdings sind die Anforderungen an die deutsche und internationale Klassifizierung nicht deckungsgleich, wie das Beispiel Grafenrheinfeld zeigt. Seit Inbetriebnahme 1982 wurde ein Vorfall bei INES 1 eingestuft: Beim Brennelementwechsel 2000 entdeckte man in den Führungsbuchsen von fünf der acht Sicherheitsventile Roststellen; der Bericht des Bundesamtes für Strahlenschutz geht davon aus, dass die Ventile – alle acht wurden ausgetauscht – dennoch funktioniert hätten. Nach deutschem Recht hatte der Vorfall keine Eil-, sondern eine Normalmeldung erfordert; international ist er auf Stufe 1 eingeordnet, weil mehrere Komponenten mit gleicher Sicherheitsfunktion betroffen waren.
Dagegen ist ausgerechnet das Problem, das bundesweit die größten Schlagzeilen über den Grafenrheinfelder Meiler erzeugt hat, nur in Kategorie N und auf Stufe 0 eingereiht: 2010 entdeckte man einen Riss an einem Rohrstück des Primärkreislaufs. Experten und Betreiber waren damals der Ansicht, dass der Weiterbetrieb ungefährlich sei; das Rohr ist erst Monate später bei der Jahresrevision ausgewechselt worden. Der Schaden stammte möglicherweise aus den Anfangsjahren des Meilers. Die Bundesregierung hat das Vorgehen von Umweltministerium und E.ON bestätigt. Kritiker dagegen äußerten, dass es unverantwortlich gewesen sei, die Anlage nicht sofort abzuschalten, um das Rohr auszutauschen.