Durch die gläserne Front im zwölften Stock des Abgeordnetenhauses in Brüssel hat sie alle im (Über-)Blick: die Gebäude von EU-Kommission und Europäischem Rat sowie – ganz nah – die Residenz des Freistaats Bayern. Kerstin Westphal sitzt mitten in Europa, seit 2009 ist die SPD-Politikerin aus Schweinfurt Abgeordnete des Europäischen Parlaments. Und sie wird es auch nach der Wahl am 25. Mai bleiben. Die Genossen haben die 51-Jährige auf Platz vier der SPD-Bundesliste gesetzt, in Bayern ist sie die Spitzenkandidatin für die Europawahl.
Kerstin Westphal hat ihr Büro sehr familiär gestaltet. Ein großformatiges Schwarz-Weiß-Foto zeigt Alexandra Kollontai (1872 - 1952), eine russische Revolutionärin, deren Lebenslauf sie sehr beeindruckt habe. Kollontai sei weltweit die erste Frau gewesen, die es bis zur Botschafterin ihres Landes gebracht habe. Sie habe sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Männerwelt Politik durchgeboxt. Für die Schweinfurterin ein Vorbild, auch wenn für sie politisches Engagement immer selbstverständlich war. Frauen- und Gleichstellungsfragen liegen ihr besonders am Herzen, seit sie als 18-Jährige in die SPD eingetreten ist.
Weitere Fotos an den Wänden zeigen Tochter Dora (16) und Sohn Mathis (12). Daneben hängen Kunstwerke der beiden. Sie sei stolz auf ihre Kinder, sagt Kerstin Westphal, weil sie sehr selbstständig mit einer professionellen Betreuerin ihren Alltag in Schweinfurt meistern. Da der Ehemann und Vater als Arzt in Mainz arbeitet, habe die Familie anfangs einen Umzug nach Brüssel, „wo es gute internationale Schulen gibt“, erwogen. „Doch die Kinder wollten in Schweinfurt bleiben.“ Jetzt versuche man, wenigstens einen Tag in der Woche sehr intensiv miteinander zu verbringen. Kerstin Westphal: „Meistens gelingt das auch.“
Der zweifachen Mutter macht der Abgeordneten-Job sichtlich Spaß. Sie schwärmt von der Arbeit im Europaparlament. Anders als auf anderen politischen Ebenen gebe es in Brüssel und Straßburg „viel mehr Kompromissbereitschaft“ über Parteigrenzen hinweg.
Die SPD-Frau verweist auf eine erfolgreiche Initiative zur Einführung eines Antiblockiersystems (ABS) für Motorräder. Hier habe man die Sicherheitsinteressen der Menschen gegen Widerstände der Industrie durchsetzen können.
Schließlich schweißt das Engagement für die „großartige Idee Europa“ zusammen, erst recht seit diese in vielen der 28 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union nicht mehr so recht populär zu sein scheint. Westphal erinnert an eine Diskussionsrunde über Europa dieser Tage in Erlangen, wo sich die Zuhörer gewundert hätten, wie einig sich die EU-Abgeordneten von der CSU bis zur Linken sind. Kritik an Europa dürfe und müsse sein, antieuropäischer Populismus und Nationalismus seien hingegen nicht zu rechtfertigen.
Mal abgesehen von den fast 70 Jahren Frieden auf dem Kontinent wirke Europa im Alltag: Wenn Sicherheitsstandards im Straßen- und Luftverkehr vereinheitlicht werden, wenn der Verbraucherschutz beispielsweise mit Regelungen zu Fluggastrechten, Handysteckern oder Roaminggebühren gestärkt wird. Außerdem fließe jede Menge Geld aus Brüssel in die Regionen, gerade auch nach Franken, sei es für Konversionsprojekte, Forschungsvorhaben an den Hochschulen oder den Breitbandausbau auf dem Land. Westphal: „Europa wirkt.“ Und dank des Europäischen Parlaments seien auch die bürokratischen Hürden deutlich gesenkt worden, um an Fördermittel zu kommen.
„Wir wünschen uns mehr Beachtung für
Europa, auch von den Medien.“
Leider täten sich Bundes-, Landes- und Kommunalpolitiker oftmals schwer, diese Leistungen anzuerkennen. „Wir wünschen uns mehr Beachtung für Europa, auch von den Medien.“ Nur so ließe sich mit Vorurteilen und Klischees aufräumen. Gerne erwähnt die SPD-Politikerin in diesem Zusammenhang die Diskussion um ein mögliches Verbot von offenen Ölkännchen in Restaurants. Das hätten sich Beamte in der Kommission zwar ausgedacht, aber das Parlament sei eingeschritten und habe Regelungen verhindert. „So funktioniert die politische Debatte, das ist Demokratie.“ Ähnliches gelte für die Pläne, den Wasserdurchlass bei Duschköpfen und Toilettenspülungen zu reglementieren. Da seien Beamte „übers Ziel hinausgeschossen“, allerdings hätten ihre Überlegungen einen ernsten Hintergrund gehabt. „Sie wollten etwas gegen den Wassermangel und die Wasserverschwendung in Südeuropa tun.“
Dass das Bundesverfassungsgericht die Fünf- oder Drei-Prozent-Hürde für die Europawahl in Deutschland gekippt hat, sorgt bei Kerstin Westphal für Unverständnis.
Die Urteilsbegründung, Entscheidungen, die vom EU-Parlament getroffen werden, seien nicht so bedeutend wie die des Bundestags, ärgert sie. Allerdings räumt sie im Gespräch ein, dass es weiter Demokratie-Defizite in Europa gibt. Beispielsweise hat das Parlament auch künftig kein Initiativrecht bei der Gesetzgebung. Westphal: „Aber dafür kämpfen wir weiter – parteiübergreifend.“
Lieber spricht die SPD-Politikerin über die Möglichkeiten, die es jetzt schon gibt. So ist das neu gewählte EU-Parlament erstmals bei der Wahl des Kommissionspräsidenten gefragt. „Ein Meilenstein“, nennt das Westphal. Ob aber auch die Wähler daheim solche Fortschritte sehen? „Man kann nur immer wieder aufklären – und werben.“ Die Schweinfurterin wird sich so schnell jedenfalls nicht entmutigen lassen, als gelernte Erzieherin ist sie geduldiges Erklären gewohnt. Wobei sie findet, dass beim Thema Europa gerade Jugendliche häufig viel aufnahmebereiter sind als Erwachsene. „Gerade bei Schulveranstaltungen lässt sich Begeisterung wecken. Da merken viele sehr schnell, dass Europa Alltag ist – und gar nicht weit weg. Das macht richtig Spaß.“
Kerstin Westphal
Die gebürtige Hamburgerin begann ihre politische Karriere bei den Jungsozialisten. Von 1988 bis 1994 war sie stellvertretende Vorsitzende der Jusos in Bayern. Seit 2007 gehört Kerstin Westphal dem Vorstand der Unterfranken-SPD an, seit 2011 auch dem Präsidium der Bayern-SPD. Ihr besonderes Augenmerk gilt der Frauen- und Gleichstellungspolitik. Von 1996 bis 2008 war die zweifache Mutter Stadträtin in Schweinfurt. 2009 wurde Kerstin Westphal erstmals ins Europaparlament gewählt. Die 51-Jährige ist gelernte Erzieherin, sie hat unter anderem im St. Josef Stift (Eisingen) und im Haus Marienthal (Schweinfurt) gearbeitet. Text: micz