zurück
MAINFRANKEN
Redakteure erinnern sich an die Wende
Markus Rill
,  Michael Czygan
,  Torsten Schleicher
,  Georg Stock
 und  Tilman Toepfer
 |  aktualisiert: 07.01.2016 14:59 Uhr
Ganz unterschiedlich erlebten unsere Redakteure in der Region die Ereignisse am 9. November 1989. Auch viele Leser erlebten das Ende des Eisernen Vorhangs hautnah mit – und einige hatten den Fotoapparat dabei.


1) Gespenstige Ruhe vor dem Sturm

Es ist Donnerstag, der 9. November 1989, 19.17 Uhr. Die „Heute“-Nachrichten berichten aus Ost-Berlin von der Pressekonferenz mit Günter Schabowski. Der ZK-Funktionär verkündet die Reisefreiheit für DDR-Bürger. Ich sitze in meiner Wohnung in Bad Neustadt – und staune. Wenn das kein Fake ist, dann ist die Mauer ab sofort auf. Die DDR ist nicht weit, gerade mal 25 Kilometer. Bei so einem epochalen Ereignis will ich dabei sein. Ich hole die Freundin ab, mache mich auf Richtung Grenzübergang Eußenhausen/Meiningen.

Gespenstige Ruhe, als wir dort gegen 20.30 Uhr ankommen. Von Freude, Jubel keine Spur. Doch kein Mauerfall? Wir steuern die Wache der Grenzpolizei an. „Geht heute Abend nicht die Grenze zur DDR auf?“ Die zwei Beamten schütteln mit dem Kopf. „Wie, die Grenze auf?“ Gern hätten sie mich für verrückt erklärt.

Ich erwähne die Konferenz mit Schabowski. „Also, wenn da was dran wäre, dann müssten wir es doch als Erste erfahren“, sagt der Grenzpolizist. Klingt einleuchtend. Mehr noch schüchtert mich die Ruhe ein. Kein Trabi, kein Wartburg in Sicht. Also wieder zurück.

Spätabends im Fernsehen die ersten Bilder aus Berlin. Von Menschen, die auf der Mauer tanzen, von Trabi-Schlangen. Also doch, die Grenze ist auf. Beruhigt schlafe ich ein. Freitagmorgen geht's dann erneut Richtung Eußenhausen. Trabi an Trabi, Wartburg an Wartburg kommen mir entgegen. Es ist wahr, die Mauer ist gefallen. Auch in der Rhön. Irgendwann in der Nacht.

Michael Czygan (51) erlebte die Wendezeit als Redakteur in Hammelburg (Lkr. Bad Kissingen). Gelebt hat er seinerzeit in Bad Neustadt (Lkr. Rhön-Grabfeld).
 

Fotoserie


2) Wiedervereinigung mit fetten Karpfen

Die Berliner Mauer fiel ohne mein Zutun, bedauerlicherweise auch in meiner Abwesenheit. Wie das, werden Sie fragen, gehört nicht ein ordentlicher Journalist immer an die Brennpunkte des Geschehens? Eigentlich schon, muss ich zugeben. Nur in meinem Fall war das leider völlig unmöglich. Unsere Buben – Zwillinge – waren eineinhalb Jahre alt, als der Eiserne Vorhang Löcher bekam, unsere Tochter gerade mal dreidreiviertel Jahre. Angesichts der grenzwertigen familiären Situation bei uns zu Hause rechnete keiner meiner Verwandten im sich auflösenden Arbeiter- und Bauernstaat DDR mit meinem Einsatz an der „Ostfront“.

Mein beruflicher Ehrgeiz tendierte angesichts der Umstände gegen null. Nach schlaflosen Nächten an den Betten hüstelnder oder brüllender Kinder empfand ich die Redaktion in jenen Tagen als Raum der Stille. Hier konnte ich Kraft für die kommende Nacht sammeln. Hier lauschte ich still den Berichten der Kollegen, die ordentliche Journalisten waren, und somit Augenzeugen jener unglaublichen Vorgänge im Osten wurden. Vorgänge, die ich auf der Couch vor laufendem Fernseher meist verschlief.

Kurz vor dem Jahresende 1989 stand dann der sächsische Teil der Verwandtschaft vor der Tür. Die Leute schienen gut genährt, vorsichtshalber erwarb ich aber eine stattliche Anzahl großer Karpfen, um sie am Silvesterabend in einem Sud aus Silvaner mit Wurzelgemüse schwimmen zu lassen. Sie ahnen, was folgte: Nicht nur die Karpfen wurden schön blau in jener ersten gesamtdeutschen Silvesternacht, und der viele fette Fisch lag uns allen tagelang schwer im Magen. Jedenfalls habe ich seit der Wiedervereinigung Karpfen nur noch in überschaubaren Portionen und ausschließlich gebacken gegessen.

Tilman Toepfer (60) erlebte die Wende in Hettstadt (Lkr. Würzburg), hatte aber immer Kontakt nach drüben: Drei Geschwister des Vaters lebten in der ehemaligen DDR.
 



3) Sektfrühstück in Mellrichstadt

Ein einfacher Satz genügte, der sich noch dazu als Versprecher entpuppte. „Unverzüglich und sofort“ gelten die neuen Bestimmungen zur Reisefreiheit für DDR-Bürger, hatte SED-Mann Günter Schabowski bei einer Pressekonferenz verkündet. Worte von einer solchen Urgewalt, die den antiimperialistischen Schutzwall in sich zusammenbrechen ließen. Die Geschichtsbücher halten fest: In der Nacht vom 9. zum 10. November 1989 bekam der Eiserne Vorhang Löcher.

Die Berliner Mauer fing an zu bröckeln, als sich am Abend des 9. November die Ostberliner zu Tausenden auf den Weg zum Grenzübergang Bornholmer Straße machten. „Macht das Tor auf!“, untermauerten sie ihre Rufe nach Ausreise. Um 23.30 Uhr war die Menge nicht mehr zu halten, unter Jubel und Freudengeschrei strömten die Menschen Richtung Westberlin. Ob zu Fuß oder im Trabi, ob solcher Glückseligkeit fühlten sie sich im siebten Himmel.

350 Kilometer Luftlinie davon entfernt war auf der Schanz dieser Himmel voller Glückseligkeit noch unter einer tristen, nebligen Novembernacht verborgen. Am Grenzübergang zwischen Eußenhausen (Lkr. Rhön-Grabfeld) und dem thüringischen Henneberg vergingen nämlich noch Stunden, bis sich der Schlagbaum öffnete. Der Morgen nahte schon, als auf Thüringer Seite die ersten schwachen Lichter aus dem Nebel auftauchten und einige wenige Trabis auf bayerisches Gebiet zurollten.

Es ist, so hält es das Protokoll der bayerischen Grenzbeamten fest, 3.40 Uhr am Freitag, 10. November 1989. Da ist von lautem Jubel, vom Überschwang der Gefühle noch nicht viel zu spüren. Eher das Unfassbare. „Das ist ja unglaublich. Wir wollen nur mal rüber zu euch, um zu schauen“, sagten die DDR-Bürger, die ihr Glück noch gar nicht fassen konnten, getrieben von der Sehnsucht nach dem anderen Deutschland. Fügten aber gleich hinzu: „Dann geht's wieder zurück.“

Und wer zu nachtschlafender Zeit bei einem Bummel durch Mellrichstadt unterwegs war, hatte vielleicht auch das Glück, in eine Gaststätte eingeladen zu werden, wo es in der Nacht bereits freie Kaffee-Runden und zur Feier der historischen Stunden Sektfrühstück am Morgen gab. Als der Erste schließlich mit dem Hundert-Mark-Schein Begrüßungsgeld die Runde betrat, da kannte der Jubel sprichwörtlich keine Grenzen.

Im Laufe des Tages nahm der Strom der Ausreisenden an der einzigen Passierstelle Unterfrankens natürlich zu. Verbunden mit den Bildern an der Grenzkontrollstelle, die auch 25 Jahre danach den Puls höher schlagen lassen: glückliche Menschen, die in ihren Trabis und Wartburgs oder auf Simson-Zweirädern aus dem Nebel ins Licht der Kontrollstelle – inzwischen von zahlreichen Bundesbürgern belagert – rollten. Jubelrufe und Umarmungen steigerten sich, als immer mehr DDR-Bürger die weiße Demarkationslinie überfahren hatten. Und nicht wenige gestandene Mannsbilder stiegen aus, um den Boden auf Westseite zu küssen.

Am Abend des 10. November um 18 Uhr zog die bayrische Grenzpolizei eine erste Bilanz: 3276 DDR-Bürger waren binnen zehn Stunden in den Westen gefahren. 1018 hatten bis 18 Uhr wieder die Rückfahrt angetreten. So hatten die Neugierde und das bislang unbekannte Gefühl der Freiheit Mellrichstadt an diesem historischen Novembertag dank der laut knatternden Zweitakter im wahrsten Sinne des Wortes in eine „Trabantenstadt“ verwandelt. Und auf freiheitlichem Boden brachte einer der Gäste aus dem anderen Deutschland den neuesten Spruch aus der DDR unter die Leute: „O weh, o Graus, das Volk will zurück, die Führung reist aus.“

Georg Stock (65) war 33 Jahre lang Redakteur in Mellrichstadt (Lkr. Rhön-Grabfeld) und bezeichnet jene Tage im November als seine bewegendste Zeit im Journalismus.
 


 

4) Die Grenze offen? – Komplett verpasst!

Es war ein sonniger Herbsttag, als ich am 8. November 1989 mit drei Soldaten und einem Unteroffizier in einen Güterwaggon stieg. Seit August war ich als Wehrdienstleistender Unterleutnant der NVA in Schwerin stationiert, und an jenem Tag hieß der Befehl: Begleitung eines Materialtransports von unserem Standort Schwerin/Stern-Buchholz ins nicht allzu weit entfernte Bad Kleinen. Eine Routinesache.

Wie bei solchen Aktionen nicht unüblich, brauchte es allerdings für wenige Kilometer kleine Ewigkeiten. Die Deutsche Reichsbahn hängte unseren Transport mal an, mal ab, wie es eben passte. Den folgenden 9. November verbrachten wir somit samt Waggon stehend auf einem Rangiergleis mitten in der mecklenburgischen Prärie: Links war Acker und rechts auch. Ein Radio hatten wir vergessen, stattdessen: Karten spielen, rauchen, lesen, Beine vertreten, Dosensuppe kochen. Für uns fünf Helden vom Güterwaggon konnte ein Tag kaum ereignisloser vonstattengehen als dieser 9. November 1989.

Tags darauf trudelten wir dann endlich auf dem Bahnhof von Bad Kleinen ein. Und dort wunderten wir uns: Ungewöhnlich viele Menschen standen am Schalter für Auslandsfahrkarten an! Ein paar Minuten später erfuhren wir auch, warum. Und ich weiß seitdem, dass man Weltereignisse nicht nur erleben, sondern leider auch komplett verpassen kann . . .

Eine gute Woche später nutzte ich ein freies Wochenende, um den Mauerfall ganz privat nachzuholen. Mit meinem blauen DDR-Personalausweis ging es von Ost-Berlin-Mitte hinüber nach Kreuzberg. Kurzer Blick des Grenzers in den Ausweis: Passieren! Als wäre es die normalste Sache der Welt.

Torsten Schleicher (45) leistete zur Wendezeit in Schwerin seinen Wehrdienst bei der NVA. Zu Hause war er damals in Halle (Saale).
 



5) Angriff aus dem Osten blieb Übungsszenario

Ober- und Hauptfeldwebel, die beim Einstudieren des Infanterielieds darüber streiten, ob man „Refrein“ oder „Refro“ sagt – das ist so ziemlich die einzig angenehme, weil unterhaltsame Erinnerung an meine Bundeswehrzeit in den Jahren 1989/90. Auf dem Einberufungsbescheid war noch von 18 Monaten Pflichtdienst die Rede, tatsächlich gehörte ich zur letzten Generation, die 15 Monate Grundwehrdienst zu leisten hatte. Wer drei Monate später einberufen wurde, blieb schon nur noch zwölf Monate in Olivgrün gekleidet. Als Panzergrenadier in Rotenburg/Fulda ging es nahezu täglich ins Gelände. Immer hieß es bei den Übungen: „Feind greift an aus dieser Richtung, 20 Kilometer“ – mit zackiger Handbewegung gen Osten, dorthin, wo die sogenannte innerdeutsche Grenze verlief. Der Sinn dieser Übungen erschloss sich vielen von uns Wehrdienstleistenden angesichts des politischen Klimas nicht.

Und eines Tages, nachdem wir am Vorabend im Fernsehen Menschenmassen beim Überqueren der Berliner Mauer zugesehen hatten, wurde die Kompanie in einem Ausbildungsraum zusammengerufen. Der Hauptmann versuchte zu erklären, was da geschehen war. Ich kann mich an kein Wort seiner Rede erinnern, wohl aber an das Gefühl, Geschichte zu erleben. Für den gemeinen Infanteristen änderte der Mauerfall erst einmal nichts.

Bei der Übung am Nachmittag war wieder die Rede vom „Feind in dieser Richtung“ – zackige Handbewegung gen Osten – „20 Kilometer“. Für mich persönlich bedeutete der Mauerfall, dass ich nicht wie vorgesehen in die Sportfördergruppe Ringen versetzt werden würde. Zu dieser Einheit mit Platz für zwölf Sportler waren auf einen Schlag über 20 Athleten aus den „neuen Bundesländern“ hinzugekommen. Ich blieb Panzergrenadier.

Markus Rill (44) ist Main-Post-Redakteur und Musiker. Er war mehrfacher deutscher Jugend- und Juniorenmeister im Ringen sowie Mitglied der Bundesligamannschaft des AC Bavaria Goldbach (Lkr. Aschaffenburg).

 
Themen & Autoren / Autorinnen
Markus Rill
Michael Czygan
Torsten Schleicher
Georg Stock
Tilman Toepfer
Berliner Mauer
DDR
Eiserner Vorhang
Günter Schabowski
Mauerfall
Panzergrenadiere
Lädt

Damit Sie Schlagwörter zu "Meine Themen" hinzufügen können, müssen Sie sich anmelden.

Anmelden Jetzt registrieren

Das folgende Schlagwort zu „Meine Themen“ hinzufügen:

Sie haben bereits von 50 Themen gewählt

bearbeiten

Sie folgen diesem Thema bereits.

entfernen
Kommentare
Aktuellste
Älteste
Top