Gustl Strobel ist keiner, der um den heißen Brei herumredet. Unverblümt erklärt er dem Reporter zur Begrüßung: „Sie hätte ich jahrelang am liebsten ans Kreuz genagelt.“ Trotzdem lässt Gustl Strobel ihn ins Haus – denn zu sehr schmerzt den Landwirt aus Rieden (Lkr. Würzburg) eine Erkenntnis, die Monate in ihm und seiner Familie gereift ist.
Gustl Strobel und seine Frau Gabi leiden seit fünf Jahren an der Ungewissheit darüber, wie ihre Tochter Simone zu Tode kam. Aber auch an jedem neuen Artikel über den Fall. Jedes Foto, jede Radiosendung reißt die Wunden wieder auf. Denn sie erzählen – immer aufs neue – die grausamste Geschichte, die Eltern sich vorstellen können.
Simone war 25, attraktiv, voller Leben. Sie wollte etwas von der Welt sehen, ehe sie in die Routine des Alltags gezwungen wird. Sie reiste mit Freund Tobias, dessen Schwester Katrin und einem weiteren Bekannten ein Jahr durch Australien – und verschwand am 12. Februar 2005 jäh bei Nacht auf einem Campingplatz in Lismore. Fünf Tage danach wurde sie nur einen Steinwurf entfernt gefunden: tot, unter Zweigen versteckt.
Wäre der Fall schnell aufgeklärt worden, dann hätte ihre tief gläubige Familie getrauert – aber vielleicht Frieden gefunden. Doch davon sind sie und die Ermittler bis heute haarscharf entfernt: Ein einzelnes Haar wurde ohne Wurzel am Fundort der Leiche sichergestellt. Es könnte vom Täter sein. Das Problem: Beim Vergleich mit der DNA eines Verdächtigen wird es bei heutigem Stand der Technik zerstört. Gibt es keine Übereinstimmung, ist damit für Oberstaatsanwalt Erik Ohlenschlager in Würzburg die Spur zerstört. Also wartet er und hofft, dass Fortschritte der Kriminaltechnik bald die mehrfache Verwertung ermöglichen – vernünftig, aber kein Trost für Simones Eltern.
Zum fünften Todestag zitiert die Zeitung „Northern Star“ in Lismore Ermittler: „Tobias ist weiter Hauptverdächtiger.“ Doch für die Festnahme reichen die Hinweise nicht, schon gar nicht für eine Anklage. Ermittler sind von Australien nach Würzburg gereist und umgekehrt, um Erkenntnisse auszutauschen. In England und Japan suchten sie nach Zeugen. Sie glauben zu wissen, dass Simone in jener Nacht von einem ihrer drei Begleiter erstickt wurde. Tobias, der seine Unschuld beteuerte, ist auf freiem Fuß, weit weg von seiner Heimat – zuletzt als Surflehrer in Wilderness, Südafrika.
Der 38-seitige Bericht eines Mordanalyse-Teams in Lismore und die Voruntersuchung in Australien 2007 belasten ihn: Die „Tötung war eine Beziehungstat, bei der es eine enge Verbindung zwischen Täter und Opfer gab“, sagt der Bericht. „Solche Taten entstehen oft, wenn emotionale Konflikte eskalieren: vom Streiten zu tödlicher körperlicher Gewalt.“
Ermittler glauben zu wissen, dass der Täter Simones Kleidung versteckte, um das Identifizieren zu erschweren oder ein Sexualverbrechen vorzutäuschen. Er hatte keine Möglichkeit, den Leichnam weit weg zu schaffen und in der Wildnis...
...zu vergraben, wo sie vielleicht nie gefunden worden wäre. Und er konnte wohl nicht alleine den Leichnam über einen hohen Zaun zum Fundort schaffen – dafür fehlen typische Verletzungen. Doch all das reicht nicht als Beweis, der Fall ist nach fünf Jahren noch immer ungelöst.
Die Ungewissheit peinigt Angehörige von Verbrechensopfern fast mehr als die Tat selbst. Gabi Strobel zerbrach nahezu daran, wissen Freunde der Familie. „Wir tragen es zusammen“, sagt Gustl Strobel nur, ein kräftiger Mann mit festem Händedruck und klarer Stimme – aber tiefer Verzweiflung im Herzen: „Es gibt Phasen, in denen wir fast zerplatzen“, bekennt er. Dann weicht die Wut wieder tiefer Apathie: „Jeden Morgen sitze ich auf der Bettkante und muss mich zwingen, den Alltag zu ertragen.“
Auf jener Bettkante saß er auch an dem Morgen, als er am Telefon vom Tod seiner Tochter hörte. Fünf Jahre später wollen Strobel und seine Frau nicht länger schweigen. Verschwiegen wird – so ihr Eindruck – schon zu lange. Und so sitzen sie mit Sohn Alexander und Tochter Christina im Wohnzimmer. Auf dem Tisch flackert eine Kerze, die Simones Namen trägt. Und Gabi Strobel erzählt von ihrem gerade geborenen Enkel David. Manchmal, wenn sie ihn auf dem Arm habe, blicke er an ihrer Schulter vorbei ins Leere, als stünde da jemand. „Als wäre Simone da, und passt auf ihn auf.“
Der Landwirt Gustl Strobel – gewohnt, zu schaffen, nicht Reden zu schwingen – sucht nach Worten, die seiner Verzweiflung angemessen Ausdruck verleihen: „Alles, was jetzt noch passiert, bringt Simone nicht wieder“, sagt er. „Die Zeit spielt keine Rolle mehr. Aber wir wollen wissen, was passiert ist.“ Dann, nach einer Pause: „Wir wollen, dass der oder die gefunden werden . . .“ Er muss schlucken, der Satz bleibt unvollendet im Raum stehen.
Lange glaubten die Strobels den Verdacht gegen Simones Freund und seine Schwester nicht. Aber sie verstehen nicht, warum die zwei nicht sagen, was in jener Nacht passierte. Denn nur der vierte Mitreisende, Jens M., war bereit, zwei Jahre nach der Tat nach Australien zurückzukehren, um als Zeuge auszusagen. Insgeheim traf er sich auch mit Simones Vater und erzählte Details über jene Nacht in Lismore. „Ich wusste, dass er die zwei bei der Anhörung belasten würde – aber nicht womit“, sagt Gustl Strobel über die Begegnung, die ihm die Augen öffnete. Nun glaubt er: Tobias „hat uns immer wieder belogen. Das ist, was ich nicht verstehe. Da habe ich so einen Hals.“ Dabei greift er sich grimmig selbst an den Kragen.
Simones Bruder, der seine tote Schwester nach Hause holte, wunderte sich schon bald...
...über den Freund seiner Schwester: „Von ihm gab es nie eine Reaktion, an der man gemerkt hätte, dass ihm Simone fehlt.“ Später versuchte auch Gustl Strobel, ihm eine Brücke zu bauen: „Wenn es etwas gibt, wofür du Dich schämst, dann musst Du es sagen“ – vergeblich, Tobias schwieg. „Wir haben ihn immer wieder verteidigt“, sagt Simones Bruder. Er war in Australien, um seine tote Schwester nach Hause zu überführen – und wunderte sich, warum ihr Freund gleich ungefragt erzählte: „Wir hatten eine pädagogische Ausbildung, wir haben jeden Streit im Keim erstickt.“ Wollte er da schon jedem Verdacht vorbauen?
Die Voruntersuchung in Australien im Sommer 2007 zeichnete ein anderes Bild: Von den Ermittlern sichergestellte Tagebücher von Simone und Tobias kündeten von Zoff zwischen beiden in den Tagen vor Simones Verschwinden und in der Nacht selbst – nach einem Streifzug durch die Bars von Lismore. Hat Tobias eine Erklärung dafür?
Simones Familie sagt: „Wenn man mit ihm darüber sprechen wollte, wich er immer wieder aus.“ Glaubt man den Aussagen von Jens M. in der Anhörung, ging er sogar noch weiter: Vor jeder Vernehmung habe Tobias seinen Mitreisenden eingetrichtert, nichts vom Streit zu erzählen, nach dem Simone angeblich verschwand. An der nächtlichen Suche seiner Begleiter habe er sich gar nicht beteiligt. Am nächsten Morgen habe die Gruppe – statt im wildfremden Land weiter nach Simone zu suchen – seelenruhig gepackt und die Übernachtung am Campingplatz gezahlt. Erst dann gingen die drei am Vormittag zur Polizei, um die junge Frau vermisst zu melden.
Tobias S. schweigt dazu. Anfragen unserer Redaktion über seinen Verteidiger ließ er unbeantwortet. Anwalt Roland Müller aus Karlstadt erklärte bereits 2007 auf Anfrage: „Es wäre an der Zeit, dass die deutsche Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren einstellt.“ Auch die Schwester von Tobias wollte am Rande eines Prozesses in Gemünden nicht mit dem Reporter reden.
Die Eltern seiner Freundin, bei denen Tobias oft zu Gast war, sahen ihn zuletzt am 21. September 2005 beim Gedenk-Gottesdienst für ihre Tochter. Danach mied er den Gang ins Elternhaus Simones, in dem er früher häufig war. Dann hörten die Strobels,...
...er lebe jetzt – wegen des öffentlich geäußerten Verdachts – im Ausland. Zunächst schrieb er ihnen noch E-Mails, dann schwieg er ganz.
Zwei Jahre später hofften die australischen Ermittler, er werde bei der offiziellen Voruntersuchung seine Version erzählen. Doch weder Tobias noch seine nach Unterfranken zurückgekehrte Schwester kamen zu der Anhörung. „Was würde es ändern, wenn ich jetzt etwas dazu sage?“, fragte Tobias einen Reporter, der ihn in Wilderness, einem Surfparadies an Südafrikas „Garden Route“ auftrieb. Es sei „ein zu schöner Tag, um an den Tod Simones zu denken“, zitierte ihn der Journalist – und berichtete: Im Wald hinter dem Haus habe Tobias einen Schrein errichtet, der mit allerhand Erinnerungsstücken an Simone bestückt sei.
Über sein Schweigen rätseln die Ermittler. Sie sagen: Natürlich dürfe ein Verdächtiger zu Vorwürfen schweigen – aber vom unschuldigen Freund eines Mordopfers würde man mehr Mithilfe bei der Aufklärung erwarten. Gustl Strobel hat das lange ignoriert. Aber im vorigen Jahr war er die Ungewissheit leid, wollte die Aufklärung nicht den Mordermittlern überlassen. Er rief bei den Eltern von Tobias und Katrin an: „Wir müssen reden.“ Schließlich fuhr er in Begleitung seines Schwagers...
...in den kleinen Ort im Spessart. „Es war ausgemacht, dass Katrin dabei ist“, erinnert er sich. Er drängte: „Was ist passiert?“ Aber sie beharrte auf der Version, die Gustl Strobel heute die „von Tobias erfundene Lügengeschichte“ nennt. Ähnlich verlief ein Treffen Katrins mit der australischen Autorin Virginia Peters, die in Unterfranken zu dem Fall recherchierte. „Katrin ist sofort laut geworden: Sie hat nichts zu sagen.“
In Lismore und Würzburg versichern Ermittler zu Simones fünftem Todestag, die Nachforschungen dauerten an. Gustl Strobel ist am Ende mit seiner Weisheit, am Ende mit seiner Kraft. Zornig bricht es im Gespräch schließlich aus ihm heraus: Wenn man ihn mit Tobias „nur eine halbe Stunde“ in einen Raum sperren würde . . . Er ringt um Fassung, beherrscht sich: „Wir sind nicht die, die draufhauen. Aber wir wissen nicht, welchen Grund er hat, nicht bei der Aufklärung zu helfen.“ Was er sich noch wünscht? Strobel schnauft tief bei der Frage: „Wichtig wäre, dass endlich ein Ende wäre – und wir nur noch trauern könnten.“
Das ist momentan nicht in Sicht. Einstweilen sind Gabi und Gustl Strobel dazu verdammt, weiter jeden Morgen hilflos auf der Bettkante zu sitzen – und Tag für Tag die Ungewissheit zu ertragen.