Es ist ein heikles, ein schwieriges Thema, aber es ist kein Tabuthema mehr: Wie begegnet man als Lehrkraft Kindern und Jugendlichen, die sich in einer Lebenskrise befinden, die sich absondern, die sich selbst verletzen, die in der Schule mit Selbstmord drohen?
Wie reagiert man, wenn man im Wust eines Schülerheftes ein Testament findet? In dem akribisch aufgelistet ist, wer die Stereoanlage, das Handy oder die Sportausrüstung bekommen soll. Ein Testament, das in der Ernsthaftigkeit, mit der es von dem Schüler einer 8. Klasse verfasst wurde, schockiert. So auch jetzt, bei der Arzt-Lehrer-Tagung „Mir wird alles zuviel - Krisen mit Selbstgefährdung in der Schule“ im Zentrum für Psychische Gesundheit (ZEP) der Uniklinik Würzburg.
Ziel der Veranstaltung der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie mit Referenten und Podiumsdiskutanten aus Schulen, Jugendamt, einer niedergelassenen Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Klinik-Psychologen sowie staatlichen Schulpsychologinnen: gemeinsam mit den Teilnehmern und Teilnehmerinnen der Tagung Lösungen finden an der Nahtstelle der verschiedenen Institutionen.
Das Testament des 14-jährigen Schülers war nur eines von mehreren Beispielen, die die Experten nannten. Da gibt es auch noch Kinder wie Lena (14), Grundschüler Tim oder den 18-jährigen Simon (Namen v. d. Red. geändert), die sich selbst verletzen, die um Hilfe schreien, denen in ihrem Leben alles zu viel geworden ist. Tim etwa setzt sich unter den Schultisch, sobald sich jemand nähert, tobt und schreit, schlägt mit dem Kopf gegen die Wand.
Die niedergelassene Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Heidemarie Gold-Carl, hat häufig mit Fällen zu tun, in denen selbstbeschädigendes Verhalten eine Rolle spielt. So sei Lena mit blutenden Unteramen nach Hause gekommen. Bei der Mutter und den Lehrern bestand größte Sorge, dass das mit vielen Problemen belastete Mädchen sich noch mehr antun könnte.
„Sie hatte Sorge um die kranke Mutter, kaum Kontakt zum Vater, litt unter Übergewicht und einer Anpassungsstörung mit depressiver Reaktion. Es gab Konflikte mit den Freundinnen, sie litt an Kopfschmerzen und Schlafstörungen. Lena hat sich immer wieder zu Hause selbst Verletzungen zugefügt“, schildert Gold-Carl die Vorgeschichte ihrer Patientin.
Doch nun passiert die Selbstverletzung erstmals in der Schule. Plötzlich sind Lehrer und Mitschüler unmittelbare Zeugen und Mitbetroffene. Eine Reaktion muss erfolgen. Aber welche? Darf man dieses Fass „Selbstmord“ oder „Selbstmordabsichten“ als Lehrkraft aufmachen? Reagiert man vielleicht über, riskiert den Ruf der Schule und am Ende ist alles gar nicht so schlimm? Bei der Arzt-Lehrer-Tagung standen genau solche Fragen im Raum. Feststeht, eine Kooperation der verschiedenen Stellen ist dringend erforderlich, denn Krisen mit Selbstgefährdung in der Schule, so Gastgeber und Moderator der Veranstaltung, Professor Dr. Marcel Romanos, nähmen deutlich zu.
Tatsächlich, so ergab gerade eine Auswertung des Statistischen Bundesamtes, wurden 19 644 Kinder und Jugendliche unter 20 Jahren 2013 in einem bayerischen Krankenhaus wegen einer psychischen oder einer Verhaltensstörung behandelt. Wie die Techniker Krankenkasse dazu mitteilt, seien das fast 50 Prozent mehr als noch vor zehn Jahren.
Kein Wunder also, dass sich Lehrer und Lehrerinnen zunehmend mit Situationen konfrontiert sehen, die die Aufgaben und Möglichkeiten des Systems Schule überschreiten. Aber denen sie sich notgedrungen stellen müssen. Denn meistens, so waren sich die Experten der Würzburger Tagung einig, passierten diese Notfälle am Freitagnachmittag, also dann, wenn die meisten zuständigen Stellen nicht oder nur notfallmäßig besetzt seien.
Zwar stellen sich die Schulen zunehmend größer auf, setzen auf Beratungslehrer und Schulpsychologen, doch in der Regel können solche Fälle nur schwer spontan und in einem ganzen Team aufgefangen werden. „In Fällen, in denen die Krankheit des Schülers bekannt ist, kann man gemeinsam Vorabsprachen treffen für kritische Situationen. Wichtig ist für alle Beteiligten, also Eltern, Ärzte, Lehrer, dass man auf dem gleichen Kenntnisstand ist“, sagt Gold-Carl.
In den überraschenden Fällen heißt es für die betroffenen Lehrkräfte vor allem: Ruhe bewahren. Mitschüler beruhigen, rausschicken. Dem betroffenen Schüler signalisieren, man ist da – er ist nicht alleine – ohne dabei auf ihn einzureden oder gar mit Ratschlägen oder Vorwürfen zu überschütten.
Professionelle Hilfe zu holen, sollte immer der erste Schritt sein. „Rufen Sie den Notarzt oder kontaktieren Sie den Ärztlichen Bereitschaftsdienst“, empfiehlt Diplom-Psychologin Gold-Carl. Denn in den meisten Fällen beginnt für die Lehrkraft eine Gratwanderung zwischen Nähe und Distanz – stets begleitet von der Angst, das Falsche zu tun.
Angela Langenstein, Rektorin der Wichern-Schule Würzburg, erinnert sich gut an ein Erlebnis aus ihrer Zeit als Junglehrerin. „Ein Schüler rannte mit der Ansage ,ich bring mich um' raus, kletterte auf einen Baum. Ich rannte hinterher, doch er drohte zu springen, wenn ich nur einen Schritt näher kommen würde. Ich bin dann Schritt für Schritt zurückgegangen, habe in der Klinik angerufen.“
Sie sei, so erzählt die Sonderpädagogin, dann in ihrem Büro und der Junge auf dem Baum wieder zur Ruhe gekommen. Man dürfe, so Langenstein, sich in solchen Situationen nicht überschätzen. „Ich bin keine Psychologin.“
Genau diese Überschätzung, so bestätigte Professor Romanus, berge Gefahren. „Man sollte sich lieber auf Stellen berufen, die es können.“ Andernfalls werde man emotional in Situationen mit hineingezogen, in denen man besser Distanz wahren sollte.
Wie schwer es ist, das als Laie zu beurteilen, machten Petra Meißner, zentrale Schulpsychologin für die Gymnasien in Unterfranken, und Sonja Koller, Schulpsychologin der Würzburger Wolffskeel-Realschule in einem Rollenspiel zwischen Dramatisierung und Bagatellisierung deutlich. Beide sind im Kriseninterventions- und Bewältigungsteam Bayerischer Schulpsychologinnen und Schulpsychologen (KIBBS) tätig. KIBBS bietet Schulen im Krisenfall Unterstützung vor Ort an. Meißner und Koller brachten nun mit typischen Fragen und gängigen Klischees das Problem in vielen Schulen auf den Punkt:
„Jugendliche, die über Suizid reden, tun sich eh nichts an“ – „Nein, stimmt nicht, die nehmen sich auf jeden Fall das Leben, was sollen wir da tun?“
„Das Ritzen und Androhen ist nur Betteln um Aufmerksamkeit, die wollen uns nur erpressen“ – „Nein, wer es tun will, tut es.“
„Wer den Suizid überlebt hat, wollte nicht wirklich sterben“ – „Doch, die tun es immer wieder, das ist erblich.“
Schüler auf sichtbare Veränderungen und destruktive Verhaltensweisen anzusprechen, empfinden viele Lehrer als ein äußerst schwieriges Unterfangen: Wenn ich den Schüler direkt anspreche, bringe ich ihn vielleicht erst auf den Gedanken. Anderseits könnte man versuchen die Gedanken umzuleiten, Wege zu finden, aus der Krise herauszukommen. Schweigen oder Reden? Das, so die KIBBS-Mitarbeiterinnen, seien immer die großen Fragen in den Schulen, vor allem nach einem vollzogenen Suizid eines Schülers oder einer Schülerin.
„Versuchen wir es, klein zu halten? Dann gibt es Gerüchte. Dann gefährden wir all jene, die sich ohnehin Vorwürfe machen. Die Freundin, die Schluss gemacht hat, der Freund, der nichts gemerkt hat, die Clique, die gemobbt hat, die Lehrerin, die die letzte Fünf gegeben hat.“
In der Vergangenheit, so die Schulpsychologinnen, seien solche Vorfälle meist gedeckelt worden. Das funktioniere angesichts der sozialen Netzwerke heute nicht mehr. „Wir befürworten es, es offen zu machen, aber natürlich muss man auch die Gegenargumente ernst nehmen. Und die wiegen auch sehr schwer: zum Beispiel der Nachahmungseffekt.“
Den verdeutlichte der Leitende Psychologe der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uni Würzburg, Thomas Jans, anhand des Beispiels von Torhüter Robert Enke. Nach dessen Selbstmord sei die Zahl der Selbsttötungen, insbesondere im Bereich der Schienen, rapide angestiegen. „Auch nach der Trauerfeier gingen sie noch einmal deutlich nach oben.“
Jans erläuterte auch den Unterschied zwischen Selbstverletzung und Suizidalität. Betrachte man die emotionale Ebene, so stelle man fest, dass bei der Suizidalität Hoffnungslosigkeit stehe, bei der Selbstverletzung eine schwer zu bewältigende Krise. Dem Satz „Ich will nicht mehr leben“ steht ein „Ich will, dass es mir besser geht“ gegenüber. Auch beim Empfinden in der Folge der Tätlichkeiten besteht ein Unterschied: Nach einem Suizidversuch tritt keine Erleichterung ein, nach einer Selbstverletzung schon, es findet ein Spannungsabbau statt.
Wie wichtig es angesichts der steigenden Zahl an Kindern und Jugendlichen mit Verhaltensstörungen oder psychischen Störungen ist, in der Schule nachhaltig und mit viel Engagement ein gutes Miteinander zu pflegen, erklärte Stephan Becker, Rektor der Mönchberg Grund- und Mittelschule in Würzburg, in der Kinder aus aller Welt zusammenkommen, zuletzt auch zunehmend unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Die Situation vor Ort sei sicher keine leichte, umso stolzer ist die Schulgemeinde auf ihren guten Ruf. „Für Schüler, die labil sind, ist es wichtig, eine Gemeinschaft zu erleben, in der sie sich sicher fühlen, Ansprechpartner zu haben, die zuhören, die helfen“, so Becker.
Prävention sei hier besonders wichtig, denn, so ist der Schulleiter überzeugt, „in einer Gemeinschaft lassen sich in Krisen viel besser und schneller Lösungen finden.“ Was ihm und auch den anderen Diskutanten der Tagung fehlt, ist Manpower. „In Zeiten, in denen psychische Probleme messbar zunehmen, brauchen wir in den Schulen viel mehr Unterstützungskräfte“, beklagt Becker die aktuelle Personalsituation. Dieses Problem könne aber nicht von Ärzten oder Lehrern gelöst werden. Hier sei ganz klar die Politik gefragt.