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Mein Jahr 1989: Hey, jetzt fängt das Leben an!
Die Klasse von 1989: Tschüss Schule! Die Ruhe vor dem großen Aufbruch ins Leben – und unsere Autorin im roten Kleid.
Foto: Privat/DPA | Die Klasse von 1989: Tschüss Schule! Die Ruhe vor dem großen Aufbruch ins Leben – und unsere Autorin im roten Kleid.
Melanie Jäger
Melanie Jäger
 |  aktualisiert: 22.12.2015 14:45 Uhr

Es ist Oktober 2014 und wir treffen uns, um zu feiern. Vor 25 Jahren haben wir Abitur gemacht. Viele haben sich seither nicht mehr gesehen, andere begegnen sich fast täglich. Manche sind geblieben in unserer kleinen Stadt mit den schmucken Fachwerkhäusern. Andere mussten erst in die Welt hinausziehen, um zu erkennen, dass ihr Herz an der Heimat hängt. Dass die coolste Bar in der großen City weit weg im Norden nicht annähernd so anziehend ist, wie die kleine Eisdiele am Marktplatz in der Stadt unserer Kindheit. Das zuzugeben, ist jetzt endlich möglich. Jetzt, da wir gereift sind.

25 Jahre nach unserer Reifeprüfung spüren wir uns selbst nach. Lassen Gefühle und Erinnerungen zu, reden verblüffend ehrlich über uns, über das, was das Leben in den vergangenen 25 Jahren aus uns und mit uns gemacht hat. Unser Leben als Eltern, unser Leben als entspanntere Menschen, unser Leben als Workaholics, unser Leben als die, die im Juni 1989 auszogen, um die Welt zu erobern, dem Mief der Kleinstadt zu entfliehen. Alles hinter sich zu lassen.

Hey, jetzt fängt das Leben an! Es ist das Jahr 1989 und im Radio spielen sie „Looking for freedom“ von David Hasselhoff. Das passt zwar nicht zu unserem Musikgeschmack, aber es passt zu unserer Stimmung. Wie gut dieses Lied nur Monate später zu Deutschland passen würde, konnten wir nicht ahnen. Wir tanzen nach der Abiprüfung auf Tracey Chapman, Melissa Etheridge, Madonna, die Simple Minds und Tanita Tikarem ab. Die Verliebten knutschen zu „Eternal Flame“ von den Bangles. Herbert Grönemeyer haben wir sowieso immer im Gepäck, die Glücklichen unter uns waren gerade bei einem Konzert, das aktuelle Album „Ö“ ist sensationell.

Im Song „Mit Gott auf unserer Seite“ thematisiert Grönemeyer die Barschel-Affaire, und wir regen uns auf dem Schulhof mächtig darüber auf, dass der Bayerische Rundfunk das Lied boykottiert. Wir regen uns überhaupt viel auf. Über Bischof Dyba im nahen Fulda etwa, der Homosexuelle als „hergelaufene Schwule“ und „importierte Lustknaben“ beschimpft und gegen alles ist, das mit Veränderung und Modernisierung einhergeht.

Wir sind entsetzt über die blutige Niederschlagung der Proteste in Peking, über die steigende Zahl an Autos, die die Umwelt kaputt machen. Unser Land ist übermotorisiert, klagen die einen, die anderen freuen sich auf die IAA im Herbst, wo die pfeilschnellen Neuwagen von Mercedes, BMW und Porsche vorgestellt werden sollen, Letztere zu Ehren des Jubilars Ferdinand Porsche, der seinen 80. Geburtstag feiert. In Bayern feiert derweil Franz Schönhuber, Chef der Republikaner, euphorisch sein Wahlergebnis von 14,6 Prozent.

Wir schütteln den Kopf über Bayern und darüber, dass es rechts von der CSU überhaupt noch etwas geben kann. Aber es gibt auch gute Nachrichten in jenem Jahr: Panzer, Kanonen und Flugzeuge sollen nach dem Willen der Mitgliedsstaaten der Nato und des Warschauer Paktes in Ost- und Westeuropa auf gemeinsame Höchstgrenzen herabgestutzt werden, das Wettrüsten hat ein Ende. Wer auf Waffen steht, geht ins Kino, dort läuft der neue James Bond: „Lizenz zum Töten“.

Außerdem bewegen uns noch immer die Bilder und Berichte zur Katastrophe im Fußballstadion Sheffield, als 96 Fans zu Tode gequetscht wurden. Zwischendurch sind wir unbekümmert und benehmen uns wie Kindergartenkinder. Die Lehrer verdrehen die Augen und lassen uns doch gewähren. Unermüdlich singen wir bei jeder Gelegenheit den Refrain des Kulthits des Jahres „Don't worry, be happy“ von Bobby McFerrin mit und lachen uns über Milli Vanilli tot.

Für meine Referate benutze ich den nagelneuen Computer meines Freundes, der sich wahnsinnig für die vierte Ausgabe der Computermesse CeBIT interessiert, während die meisten von uns noch gar nicht wissen, was genau es mit dem neuen ISDN-Netz der Telekom auf sich hat, das dort vorgestellt wird. Wir schreiben uns ganz selbstverständlich handschriftlich Briefe, Postkarten und Zettelchen, während sich die Fachwelt schon über die ersten tragbaren Computer freut. Als der erste Laptop mit Farbmonitor präsentiert wird (utopische Kosten: 10 000 D-Mark), stehen wir in stinkenden gelben Telefonzellen und geben zu Hause Bescheid, dass wir nach dem Beatabend lieber doch bei der Freundin in dem Kaff in der Rhön pennen wollen – oder fragen, ob Vati uns eventuell abholen kann.

Die Ersten von uns schauen sich schon mal nach einem WG-Zimmer für den Herbst um, andere haben schon Vorstellungsgespräche. Die Zeit rast, es ist Frühsommer und uns erwartet innenpolitisch ein unglaublich spektakuläres Jahr. Im Rückblick gibt es kaum eine Steigerung. Klar, war das spannend mit dem allmählichen Zerfall der DDR. Klar, haben wir später im Herbst Tränen vergossen, mitgefühlt, als die Mauer fiel. Wir lebten ja ganz in der Nähe vom Zonenrandgebiet, wir sahen seit unserer Kindheit in einwandfreier Qualität die Fernsehsender DDR 1 und DDR 2.

Trotzdem. Manchmal wollen wir an etwas anderes denken, über etwas anderes sprechen, wenn es um das Jahr 1989 geht. Es ist nicht alles banal, nicht erzählenswert, was jenseits der innerdeutschen Grenze passierte. Ja, es ist das Jahr des Mauerfalls. Mehr Politik, mehr Geschichte, mehr Pathos gehen nicht. Aber ehrlich. Kurz vorm Abflug ins eigene Leben, kurz vor der Trennung von der langjährigen ersten großen Liebe, kurz nach dem Unfalltod einer Freundin, da erscheint einem auch die Weltpolitik zuweilen seltsam unbedeutend.

Noch einmal ins Freibad, noch einmal in die Eisdiele. Im Oktober sind wir weg hier. Vielleicht sieht man sich über die Weihnachtstage, vielleicht aber auch nie wieder. Wer weiß das schon, wenn man 19 Jahre jung ist und hungrig nach der Welt da draußen. Wir wollten das Leben auf null drehen. Du in Frankfurt, ich in Würzburg. Wir hatten in den letzten Jahren mehr Zeit miteinander verbracht als mit unseren Familien. Kindergarten, Schule, Schwimmbad, Eisbahn. Wir zusammen, das waren erste Liebe, erster Kummer, erster Rausch. Angst vor dem Versagen in der Schule. Angst vor einem schlechten Abitur. Es gab auch vor 25 Jahren schon so etwas wie Schuldruck und Zukunftsangst. Wir hatten kein G 8, aber genauso Schiss vor dem nächsten Referat. Unsere Eltern machten Druck, machten sich Sorgen, förderten uns, fuhren uns durch die Gegend, aber man nannte sie nicht Helikopter-Eltern. Sie lasen keine Fachliteratur über unseren Seelenzustand, weil man damals wie heute nicht lesen muss, was man auch sehen und fühlen kann.

Weißt du noch? Die Verfolgungsjagd im Auto mit den Schnöseln aus der Popper-Clique? Sinnlos. Kindisch. Und doch unvergesslich. Heute sagen wir es treffender: Leider geil! Oh, ja. Unser Hirn vergisst einiges, unser Herz nicht. Vor 25 Jahren haben wir hier in der Eisdiele Bananen-Split bestellt und unsere Punkte zusammengerechnet, die den Schnitt unserer Abiturnote ausmachen würden. Wir haben gelästert über Gott und die Welt und ganz besonders über die Lehrer an unserem Gymnasium. Unser Gymi! Wie im Film. Schöner Altbau. Mief in den Gängen, schwere grüne Vorhänge im Musiksaal. Weißt du noch? „Klar, weiß ich es noch. Die Stinkbombe. Mein Neffe behauptet, man könne es heute noch riechen.“ „Wirklich?“ Mein Gott, ist das lange her. „Doch, das war Sonja, die sich aus dem zweiten Stock abgeseilt hat, weil sie keinen Bock auf Mathe hatte.“

Mathe. Mein Albtraum zeitlebens. Ich konnte meinem Sohn vor Jahren schon in der Grundschule nicht mehr wirklich bei den Textaufgaben helfen. „Hallo“, sagt Mathelehrer Borneis nach 25 Jahren – und schüttelt mir herzlich die Hand. „Ich glaube, ich hatte Sie nicht in einem meiner Kurse, oder?“, fragt er. „Nein“, sage ich. „Wenn Sie mich in Mathe gehabt hätten, könnten Sie sich erinnern!“

Mein damaliger Schuldirektor, 81 Jahre alt und noch genauso zackig wie einst, hört zu. „So, Melanie, das wusste ich ja gar nicht, dass Sie damals so viel abgeschrieben haben!“ Ich werde rot und er beugt seinen Kopf an mein Ohr. „Ich war früher auch schlecht in Mathematik“, raunt er. Und plötzlich, nach 25 Jahren, geht mir das Herz auf. Ich stehe hier auf meinem alten Schulhof, plaudere mit all den Menschen, die ich vermisst oder vergessen habe und könnte sie alle umarmen. Einfach so. Es wird ein toller Tag und eine tolle Feier bis tief in die Nacht hinein.

25 Jahre sind eine lange Zeit. Unsere Eisdiele am Marktplatz hat vor kurzem dicht gemacht. Aber unsere Herzen sind offen. Klar, wir sehen uns wieder. Bloß wann, das weiß keiner. Wie damals. Im Radio spielen sie Herbert Grönemeyer. Wie damals. Am Tisch zuhause geht es ums Abitur, um Noten und um Stress. Wie damals. Ich trage kurze Anzughosen mit Leggins drunter, Ballerinas und Blazer. Fast wie damals. Zufall? Ich fahre durch Würzburg, rauf zur Redaktion am Heuchelhof. Wie damals.

Sechswöchiges Praktikum. Beginn August 1989. Sprung ins kalte Wasser. Mit meinem Fiat Uno allein in einer fremden Stadt. Keine Ahnung, wie ich nach Lengfeld zu meinem gemieteten Zimmer kommen soll. Heulend rufe ich von einer Telefonzelle am Dallenbergbad meine Eltern an. Alles wird gut. Ich fange an zu studieren und verbringe mehr Zeit in der Main-Post als an der Uni. Mit vielen feiere ich gerade 25-jähriges Kennenlernen.

Mein Chef aus meiner ersten Redaktion, Würzburg-Land, mein Ziehvater, mein Motivator über viele Jahre hinweg, hat sich gerade in den Ruhestand verabschiedet. Der stellvertretende Chefredakteur, den ich vor 25 Jahren kennengelernt habe, geht bald. Manche Kollegen von damals sind schon gestorben.

Wie soll man bei soviel Abschied fröhlich feiern? Meine Abiturfreunde kennen das Gefühl. Wir sind als Abi-Jahrgang '89 mittendrin. Wir schauen schon zurück und wollen doch vorne nichts verpassen. Es ist Oktober 2014, und wir schwärmen wieder aus in alle Richtungen. Doch, wir werden zurückkehren, zu diesem Ort, zu dieser Schule, an dem unsere Freiheit vor 25 Jahren begann. Vielleicht in Gedanken bloß. Aber mit ganzem Herzen.

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