Es ist eine Krankheit, über die vermeintlich jeder Bescheid weiß: ADHS. Doch was das Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätssyndrom für Betroffene und ihre Familien bedeutet, wissen die wenigsten. Mit dem 3. Bayerischen ADHS-Tag am Mittwoch, 20. November, wollen der Selbsthilfeverein ADHS Deutschland sowie die Uniklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Würzburg Halbwissen und Vorurteilen entgegentreten. Klinikdirektor Marcel Romanos erklärt, weshalb ADHS behandelt werden muss.
Marcel Romanos: Es gibt viele Kürzel, die alle in etwa dasselbe meinen. Es gibt HKS, ADHS, ADHD und so weiter – letztlich geht es immer darum, dass wir über Kinder sprechen, die Schwierigkeiten haben, sich altersgemäß auf etwas zu konzentrieren, ihre Impulse zu kontrollieren und motorisch unruhig sind.
Romanos: Doch, unbedingt! Es ist toll, wenn Kinder unruhig sind, Leben in die Bude bringen. Bei ADHS geht es aber um etwas anderes. Wir behandeln die betroffenen Kinder und Jugendlichen nicht, um sie ruhiger zu machen oder weil sie zappelig sind. ADHS führt in der Entwicklung der Kinder zu weiteren psychischen Erkrankungen sowie zu erheblichen psychosozialen Problemen. Das können wir zumindest eindämmen.
Romanos: Es gibt Erhebungen der Weltgesundheitsorganisation, wonach weltweit 5,3 Prozent aller Kinder und Jugendlichen betroffen sind – egal in welchem Kulturkreis sie leben. Ob in Afrika, China oder in Europa und den USA. Die Behandlungszahlen sind in den vergangenen Jahrzehnten stark gestiegen, aber nur, weil man ADHS früher gar nicht diagnostiziert und behandelt hat. Erst seit den 1970ern wird es überhaupt und erst seit den 1990ern im relevanten Umfang behandelt. Inzwischen sind die Zuwachsraten gering, es hat sich eingependelt.
Romanos: Ja, die Menge an verschriebenen Präparaten mit dem Wirkstoff Methylphenidat hat in den vergangenen Jahren zugenommen. Aber: nicht ins Endlose. Da ist längst ein Plateau erreicht, es gibt sogar Statistiken, nach denen die Verschreibung von Methylphenidat wieder zurückgeht. Ich persönlich kenne keinen Hausarzt, der von sich aus und ohne Facharztdiagnose dieses Medikament verschreiben würde.
Romanos: Die Probleme treten am deutlichsten zutage in Situationen, in denen vom Kind etwas erwartet wird, was es am wenigsten gut kann: still sitzen, sich lange konzentrieren und sich zusammenreißen. Typische Problemsituationen sind etwa der Stuhlkreis im Kindergarten – alle Kinder sitzen und hören zu, nur einer nicht – oder in der Schule. Wichtig ist: es ist ein durchgängiges Problem, das immer wieder auftritt. Auch müssen alle Kriterien erfüllt sein. Es gibt extrem unruhige Kinder, die wunderbar in der Schule zurechtkommen, das ist dann kein ADHS.
Romanos: Ja, das würde ich für die allermeisten so unterschreiben. Das heißt aber nicht, dass wir nicht vorher schon erkennen können, ob Kinder Symptome für ADHS aufweisen. Bei drei oder vier Jahre alten Kindern ist allerdings die Varianz, also die Bandbreite normalen und akzeptierten Verhaltens, noch sehr groß. Da ist noch okay, was später nicht mehr okay ist. Daher wird ADHS oft auch als Entwicklungsstörung bezeichnet, weil Kinder sich in ihrem Verhalten nicht altersgemäß weiterentwickeln.
Romanos: Bei etwa der Hälfte bleibt ADHS ein Leben lang, bei den anderen geht es mit dem Alter weg – oder: Diese Hälfte findet womöglich einen Weg, mit der Erkrankung umzugehen. Das wissen wir noch nicht.
Romanos: ADHS birgt das Risiko weiterer psychischer Störungsbilder. Das können bei Jugendlichen Depressionen sein, Verhaltensprobleme, im Erwachsenenalter sind es vor allem Depressionen und der Missbrauch legaler und illegaler Drogen. Es gibt keine pauschale Entwicklung, aber sehr wohl Entwicklungsstränge mit charakteristischen Verläufen. Manche ADHS-Betroffene entwickeln eine Tic-Störung und daraus später eine Zwangserkrankung, andere werden trotzig oder gewalttätig und haben später ein hohes Depressions- und Suizid-Risiko.
Romanos: Die Methoden sind feiner und individuell angepasster geworden, es gibt eine stärkere Einbindung von Eltern und Familien. Die wichtigste Veränderung aber ist die Wahrnehmung von außen: Mehr Leuten ist inzwischen klar, dass ADHS ein echtes Problem ist. Die Medikation ist heute viel akzeptierter – früher wurden Eltern und Ärzte beinahe wie „Verbrecher“ behandelt, wenn Methylphenidat verschrieben wurde. Ohne geht es aber nicht, da laufen die Therapien ins Leere.
Romanos: Während beispielsweise die Lehrer in den vergangenen Jahren hier eine große Sensibilität entwickelt haben, vermisse ich die in den meisten Medien. Deshalb gibt es den 3. Bayerischen ADHS-Tag in Würzburg. Der Wunsch kam von den Betroffenen und Angehörigen, die wollen mit der Öffentlichkeit in Kontakt kommen, über das Thema sprechen. Denn bislang verläuft die öffentliche Diskussion meist so, dass sich Leute zu Wort melden, die weder Kinder mit ADHS kennen noch behandeln. Deshalb geht das alles oft völlig am Interesse und an den Problemen der Betroffenen vorbei, was da gesagt und geschrieben wird.
Romanos: Wenn infrage gestellt wird, ob ADHS eine echte Störung ist, kommt schnell das Argument: Das Medikament ist ja nur die einfachste Lösung, die Eltern machen es sich eben einfach, die wollen ihr Kind halt nicht richtig erziehen. Da geht es dann plötzlich um die Schuldfrage. Davon wollen wir in der Kinder- und Jugendpsychiatrie komplett wegkommen. Kinder kommen mit ADHS zur Welt wie andere Kinder mit einem Herzfehler. Dafür kann man nichts, aber man kann etwas tun.
Der 3. Bayerische ADHS-Tag findet am 20. November ab 9.30 Uhr in der Würzburger Uniklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie statt.