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WÜRZBURG
Leben wagen im Wagenleben
Britta Buss
Britta Buss
 |  aktualisiert: 07.01.2016 14:54 Uhr

Sie leben etwa fünf Handbreit über dem Boden, jeder auf etwa zwölf Quadratmetern, in einer Top-Lage, direkt am Main. Der Fluss ist Fluch und Segen in einem. Segen, wenn er gemütlich dahinzieht und für eine zauberhafte Idylle sorgt. Fluch, wenn er über seine Ufer tritt. Dann herrscht Alarm auf dem Gelände in Heidingsfeld. Etwa einen Tag braucht dann die gut 20-köpfige Gruppe, um ihre bunten Wagen vom Platz nahe der Wasserrettungswacht zu schaffen.

Seit dem Main-Hochwasser im Juni 2013 war das nicht mehr nötig. Ohnehin ließ sich 2014 recht gut an. Der Winter war ideal für die Heidingsfelder Wagenburgleute. „Da musste man wenig Briketts anschleppen“, sagt Lui. Die 27-jährige Studentin lebt seit fünf Jahren im Wagen. Nach einem ruhelosen Jahr, in dem sich die Wagenleute mit Ordnungsamt und Polizei ein ermüdendes Katz-und-Maus-Spiel lieferten, überließ ihnen die Stadt im Mai 2010 das Grundstück am Heidingsfelder Mainufer. Seither hat „die größte mobile WG in und um Würzburg“ – wie sich das Wagenkollektiv selbst nennt – dort einen festen Platz.

Die Heidingsfelder Nachbarn haben sich inzwischen an das bunte Volk gewöhnt, sagt Lui. Klar, beäugten einige anfangs das Treiben der Wagenleute argwöhnisch. Manch einer störte sich an dem „Müll“ auf dem Platz. „Aber das, was sie ,Müll‘ nannten, war unser Baumaterial, um die Wege oder Wagen zu sichern“, sagt Lui. Ohnehin hat sich die Frage nach der Entsorgung des echten Mülls auf ganz spießige Art erledigt: Die Wagenkolonie hat seit geraumer Zeit ein Mülltonnen-Sortiment, wie alle Häuslebesitzer in der Nachbarschaft auch. Und wie sie, zahlen die Kolonisten dafür Gebühren.

Abgeschottet war der Platz nie. Und er soll es auch nicht sein. Selbst wenn das bedeutet, dass hin und wieder nachts Dinge verschwinden. Das Kollektiv versteht sich als unkommerzieller Veranstaltungsort, als ein Treffpunkt für alle, die sich für alternative Kultur interessieren. Regelmäßig laden die Wagenleute zu Kulturwerkstätten, zu kleinen Musikfestivals, zu Ausstellungen ein oder organisieren ihre sogenannte Volxküche: Jeder, der mag, kann vorbeikommen, mit den Wagenleuten kochen, gemeinsam essen, Musiken machen und einen entspannten Abend am Mainufer genießen.

Fragt man die derzeit 16 Kollektivler, ob sie sich nicht doch hin und wieder nach dem Komfort sehnen, den eine Wohnung . . . – Nein! Kommt die Antwort, noch ehe die Frage zu Ende gestellt ist. In den Antworten nach dem Warum taucht fast mantrahaft das Wort „Freiheit“ auf. „Ich kann jederzeit zusammenpacken und woanders hinfahren, wenn ich das will“, sagt Lui. Für diese Unabhängigkeit hat die zierliche Lehramtsstudentin vor einiger Zeit sogar den Lkw-Führerschein gemacht. Jetzt kann sie ihre fahrbare Wohnung selbst kutschieren, muss nicht mal mehr Freunde aus der mobilen WG um Hilfe bitten. „Wenn ich so sehe, wie meine Eltern jahrelang die Hypothek vom Haus abbezahlen, dann finde ich, dass ich mit meinem Wagen besser dran bin“, sagt Alex. Miete zahlt keiner der Wagenleute. Ihre Fixkosten beschränken sich auf die Steuern für die Fahrzeuge, etwaige Reparaturen und den Lebensunterhalt. Das macht finanziell unabhängig, wenngleich fast alle der zwischen 21- und 42-Jährigen einer geregelten Arbeit nachgehen oder studieren.

Den Preis für die viel beschworene Freiheit zahlen sie alle gerne, sagen sie. Und: So hoch sei der gar nicht. Fast alle haben eine Dusche, Strom gewinnen sie aus Photovoltaikmodulen, die auf den Wagen montiert sind, Wasser holen sich einige von der Kalten Quelle nebenan, wer frisch einkauft, braucht keinen Kühlschrank . . . Es klingt ganz einfach, wenn sie erzählen, wie das Leben im Wagen funktioniert und dass man auf nichts Wesentliches verzichten müsse. „Ich habe alles, was ich brauche“, sagt Lui. Ihre Theorie: In einer Wohnung hortet man viele Dinge, weil man einfach den Platz dafür habe. Lebensnotwendig sei das meiste in Wahrheit nicht.

Lui steht in ihrem Wagen. Er ist nicht größer als ein WG-Zimmer. Nur cleverer eingerichtet: ein Hochbett ein Schreibtisch, ein Sofa, ein kleiner Ofen, eine kleine Kochecke mit Spülbecken. Das Einzige, was sie anfangs schmerzlich vermisst habe, als sie aus der Wohnung in den Wagen zog, waren ihre Bücher, sagt Lui. Die musste sie bei ihrer Mutter einlagern. Inzwischen sind die Bücher wieder bei ihr. In ihrem neuen Wagen hat sie Platz für sie. Dort stehen sie in den Regalen, jedes Fach mit einer schmalen Kette versehen, damit die Bücher während einer holprigen Fahrt nicht herausfallen können.

Als Gemeinschaftswagen haben sich die Wagenkolonisten einen alten, großen Bauwagen hergerichtet. Wie alt der ist, lassen die voll funktionsfähigen Holzräder des Gefährts erahnen. In dem geräumigen Gefährt haben eine Küche und mehrere Sofas Platz. Dort treffen sich WGler auf Rädern zum gemeinsamen Kochen, dort wird auch das Essen für die Volxküchen-Abende zubereitet. Und im Winter, wenn es zu kalt ist, um draußen beisammenzusitzen, kann – wer mag – dort Gesellschaft finden. Wie in einer ganz normalen WG – nur eben alles fünf Handbreit über dem Boden.

Wohnen mal anders: In der Serie „Ungewöhnliche Wohnorte“ stellen wir Menschen aus der Region vor, die mit ihren Unterkünften aus der Reihe tanzen: Einen Mann, der sich in ein Nonnenkloster eingemietet hat etwa, oder Menschen, die sich eine alte Synagoge oder einen Bahnhof hergerichtet haben.

 
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