
Oft geht es nicht um den Gipfel, nicht um den höchsten Punkt. Sondern um diesen einen Moment. Um das Gefühl, wenn der Fuß endlich auf ebener Fläche aufsetzt, die Hände nicht mehr höher greifen können.
Wenn das Klacken der Karabiner verklungen und nur noch der eigene Atem zu hören ist. Ralf Stute liebt diesen Augenblick. Am Ausstieg der Zahmen Gams sinkt er auf dicken Wurzeln nieder, wischt sich den Schweiß von der Stirn. Er lässt den Blick über das Tal schweifen, zu den umliegenden Bergspitzen, die zackig in den Himmel ragen. Der Klettersteig hoch über dem österreichischen Bergsteigerdorf Weißbach bei Lofer gilt als Anfängersteig. Sein Name trügt aber, zumindest im unteren Bereich.
Anfänger? Das ist Stute sicher nicht. An die 500 Klettersteige hat der 39-jährige Mittelfranke begangen, sagt er. Der Vater habe ihn mit dem Bergvirus infiziert. 1988 machten sie die erste gemeinsame Klettersteigtour: Es ging auf die Alpspitze über die Alpspitz-Ferrata. Danach bekommt er das Virus nicht mehr los. Im Internet fand Stute für seinen Geschmack zu wenige Informationen zu Klettersteigen – er fackelte nicht lange und baute vor fast 15 Jahren ein eigenes Portal auf. Zunächst erfasste und sammelte er alle Touren noch selbst, dann fanden sich andere Bergliebhaber, die ihr Wissen online teilen.
Heute tummeln sich laut Stute mehr als 5000 aktive Nutzer auf via-ferrata.de, die Zahl der gelisteten Klettersteige „dürfte im vierstelligen Bereich liegen“. Tendenz steigend.
Verwundern kann das nicht. In den vergangenen Jahren sei ein alpenweiter Trend zur Neuerschließung von Klettersteigen zu beobachten, heißt es auf der Homepage des Deutschen Alpenvereins (DAV). Deutlich mehr als 1000 gibt es in den Alpen insgesamt, sagt Stefan Winter, DAV-Ressortleiter Breitensport in München. Jährlich kämen gut 30 neue hinzu.
„Klettersteige sind in“ – auch in Unterfranken, sagt der 1. Vorsitzende der DAV Sektion Würzburg, Jürgen Graf. Die Nachfrage nach „gemütlichen Breitensportangeboten“, also leichteren und kürzeren Touren, steige. Graf warnt aber vor Übermut am Berg: Klettersteige würden oft unterschätzt, die stetige Sicherheit am Seil vermittle ein trügerisches Gefühl. Ohne entsprechende Ausrüstung und Ausbildung sollte sich niemand alleine an den Fels wagen. „Wie bei jedem Sport, muss man die Dinge beherrschen“, sagt Graf.
Das Klettersteig-Set aus Anseilgurt, Klettersteigbremse mit zwei Karabinern und Helm sowie Bergschuhe sind laut DAV Pflicht. Egal ob in leichten Steigen (Schwierigkeit A) oder extrem schwierigen (E) Touren. Auch die 150 Meter der Zahmen Gams in den Bereichen A/B machen die richtige Ausrüstung nötig. Ralf Stute zieht am Einstieg den Hüftgurt fest, schiebt den Helm aus der Stirn. Über einen kleinen Felsbauch geht es in die Wand, eine Hand folgt dem Stahlseil, der Fuß sucht Halt auf Stahlstufen oder am blanken Fels. Ein Karabiner bleibt immer im Seil eingehängt. Beruhigend. Den Blick an den Bergschuhen vorbei nach unten sollten trotzdem nur Schwindelfreie wagen. Die Gams ist zu Beginn nicht einfach zu meistern, die Gespräche der Begeher werden Schritt für Schritt leiser, der Atem lauter.
Als Klettersteig in Talnähe ist die Zahme Gams für Familien und Anfänger geeignet. Klassische Klettersteige hingegen „finden hoch oben am Berg statt“, sagt Winter. Deren Erschließung begann im 19. Jahrhundert, beispielsweise mit dem Weg durch das Höllental auf die Zugspitze oder der Überschreitung des Dachsteins. In der „unrühmlichen Phase“ der Dolomitenkriege seien dann zahlreiche Steige für die Soldaten gebaut worden, so Winter. Heute sind viele gut saniert und gern begangen. Aber die Erschließung geht weiter.
Nicht nur in den Alpen, auch nördlich von München finden Bergfreunde Gelegenheit zum Kraxeln am Stahlseil, zum Beispiel im Frankenjura. Der Höhenglücksteig nahe Hirschbach in der Oberpfalz gilt als einer der schönsten und bekanntesten, aber auch anspruchsvollsten Steige in der Fränkischen Schweiz. In den 1930er Jahren erbaut, dient er als Training für schwierige Dolomitensteige. Im September 2010 stürzte hier der Profibergsteiger Kurt Albert an einer Steilwand ab und erlag wenige Tage später seinen Verletzungen. Stute hat den berühmten fränkischen Steig mehr als hundertmal begangen – er liegt schließlich „nur eine halbe Stunde vor meiner Haustüre“, lacht der 39-Jährige. Rund zwei Stunden dauert die Kletterei durch teils senkrechte und trittlose Wände. Nichts für Anfänger.
In Unterfranken gibt es laut DAV nur einen Klettersteig – den vor rund eineinhalb Jahren sanierten Lenzsteig bei Karlstadt. Die Sektion Würzburg nutzt den Steig als Übungs- und Ausbildungsklettersteig im klassischen Sinne. Hier geht es nicht um „Funsport“, Leitern und Querungen schaffen Bedingungen wie in den Alpen – freilich im kleinen Maßstab. Auf knapp 145 Meter Seillänge bringt es der Steig, 100 Höhenmeter müssen überwunden werden.
Kletterei im unteren Schwierigkeitsgrad. Trotzdem: Ohne Klettersteig-Set und Bergschuhe geht gar nichts, sagt Graf. Am Ausstieg warten statt Gipfelkreuz ein überdimensionaler Edelweiß und der weite Blick über das Maintal.
Wenn möglich spektakulärer muss die Aussicht für Stute sein. Eine seiner schönsten Touren, erinnert er sich, war der Pößnecker Klettersteig in den Dolomiten. Der Steig ist mehr als 100 Jahre alt, gilt als Klassiker. „Für mich war es ein tolles Erlebnis nach der doch langen und durchaus anspruchsvollen Kletterei zwar nicht auf einem richtigen Gipfel, aber auf dem mächtigen Plateau rauszuklettern und dann ringsum die großen Dolomitenberge im Blick zu haben“, sagt Stute. Langkofel, Piz Boe oder Marmolada ragen ringsum in den Himmel, es „war einfach ein tolles Gefühl“.
Was reizt daran? Warum steigen Menschen auf Berge? Der englische Bergsteiger George Mallory hat einst auf die Frage, weshalb er auf den Mount Everest steigen wolle, simpel geantwortet: Weil er da ist. Reinhold Messner beschrieb den Reiz einmal so: „Die tiefsten Gründe auf die Berge zu steigen liegen darin, dass ich die stärksten Erfahrungen nur haben kann, wenn ich bis an den Rand der Möglichkeiten gehe“. Vielleicht liegt es tatsächlich am Risiko in der steilen Wand, am Ruf des Gefährlichen – ob beim Klettern, Bergsteigen oder Klettersteiggehen. Das Problem: Attraktionen wie Klettersteige mit Spaß-Elementen oder touristische Angebote locken vor allem unerfahrene Familien- und Freizeitsportler in die Berge.
Viele Regionen hätten Klettersteige als „Magnet“ entdeckt, sagt Stute. „Der ursprüngliche Gedanke des Klettersteigs – einen gesicherten Weg in der leichtesten Führe durch eine schier undurchsteigbare Felswand begehbar zumachen – ist leider nicht mehr präsent.“ Dass immer neue Steige erschlossen werden, sieht der DAV kritisch. „Wir betrachten die Erschließung der Alpen als abgeschlossen“, sagt Winter. Weitere Eingriffe in die Natur seien eigentlich nicht gewünscht – und gefährlich.
So ist die Zahl der Unfälle wie Steinschläge oder Abstürze in Klettersteigen laut DAV zwar nur leicht gestiegen. Aber: „Die Notlagen auf Klettersteigen haben in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen“, sagt Winter. Überfordert, dehydriert, kraftlos oder wie gelähmt vor Angst müssten immer häufiger Leute aus den Steigen gerettet werden.
„Man muss Klettersteige nicht nach dem Motto schneller, höher, weiter bauen“, warnt Roland Zschorn, Ausbildungsreferent beim DAV Würzburg. Für Zschorn sollte der Genuss im Vordergrund stehen. Ähnlich sieht es auch der Vereinsvorsitzende Graf. Manchmal gewinne man den Eindruck, dass Klettersteige viel zu locker genommen werden, sagt er. „Die Alpen sind letztlich Naturraum und keine Kulisse.“
Und Natur birgt Gefahren. „Mit der Zeit lernt man, das Gelände entsprechend zu ,lesen' und weiß, wo man sich länger und wo man sich lieber nur sehr, sehr kurz aufhalten sollte“, sagt Stute. Er selbst hat diese Erfahrung auf dem Alpiniweg in den Sextener Dolomiten gemacht. Plötzlich hörte er ein Surren, ein Stein von der Größe eines Fußballs schlug mit Wucht nur knapp einen Meter neben ihm auf.
Für jede Reaktion wäre es zu spät gewesen. „Da hätte ich keine Chance gehabt und der Helm hätte bei so einer Steingröße auch nichts mehr gebracht.“ Steinschläge müssten bei jeder Tour als Risikofaktor einkalkuliert werden. Stute ist die Gefahr bewusst, für ihn gehört sie zum Bergsport dazu. „Ins Wandbuch trage ich mich immer ein“, sagt der Familienvater. Im Falle eines Unfalls, der auch beim Abstieg immer passieren kann, lasse sich so „in etwa rekonstruieren, wann ich wo und wie unterwegs war“.
Den Ausstieg der Zahmen Gams hat Stute nach rund einer Stunde erreicht. „Nicht zu leicht und ein wenig fordernd“, beschreibt er die Kletterei. Die Bergschuhe werden im Gras ausgestreckt. Auf dicken Wurzeln sicher sitzend trägt er sich – natürlich – ins Wandbuch ein. Ringsum grüßen weder die Dolomiten noch die Zugspitze. Trotzdem: Das Gefühl ist da. Stolz. Glück. Geschafft.
Wissenswertes rund um Klettersteige
Definition: Laut Österreichischem Alpenverein sind Klettersteige Weganlagen in steilem und ausgesetztem Felsgelände, die durch den Einbau künstlicher Tritte und Griffe sowie die Anbringung eines Stahlseils als permanente Sicherung begehbar gemacht werden. Schwierigkeiten: Alpine Klettersteige gibt es nach Angaben des DAV in unterschiedlichsten Längen und Schwierigkeitsgraden. Sie reichen auf einer fünfstufigen Skala von technisch leichten und nur wenig ausgesetzten (A) bis hin zu überhängenden und sehr kraftraubenden Wegen (E). Ausrüstung: Ein Klettersteig-Set besteht laut DAV aus einem Anseilgurt, einer Klettersteigbremse mit zwei Klettersteigkarabinern zum Einhängen in das Stahlseil und einem Steinschlaghelm. Sicherung: Im Klettersteig gilt das „Prinzip des stetigen Gesichert-Seins“. Das heißt laut Alpenverein, mindestens ein Karabiner ist immer im Stahlseil eingehängt. An den Verankerungspunkten des Seilgeländers wird der Wechsel der Karabiner vorgenommen. Dabei wird zuerst ein Karabiner vor dem Fixpunkt eingehängt. Erst dann kann der andere ausgehängt und nachgezogen werden. Regeln im Klettersteig: Touren sollten sorgfältig geplant werden – auch der Abstieg.
Generell sollte bei Gewittergefahr nicht in einen Klettersteig eingestiegen werden. Die richtige Ausrüstung ist bei jeder Tour ein Muss, Drahtseil und Verankerung sollten immer geprüft werden. Im Steig gilt: Ausreichend Abstand zu anderen Bergsportlern einhalten, beim Überholen klare Absprachen treffen und auf Steinschläge aufpassen. Text: sp