
Alles schwieg. Es gab keine Diskussion. So steht es im Protokoll der „37. Versammlung Südwestdeutscher Irrenärzte in Tübingen“. Dort stellte Alois Alzheimer am 3. November 1906 erstmals Wissenschaftlern „eine eigenartige Erkrankung der Hirnrinde“ vor. Das Interesse galt jedoch nicht seinen Ausführungen, sondern einem anderen, damals neuen Fachgebiet: der Psychoanalyse. Carl Gustav Jung war zum Beispiel anwesend. Und der berühmte Tiefenpsychologe aus Zürich, der damals noch mit Sigmund Freud auf einer Wellenlänge lag, meldete sich beim nächsten Vortrag durchaus zu Wort.
Alois Alzheimer soll über das Schweigen seiner Kollegen herb enttäuscht gewesen sein. Er war überzeugt, dass sich der Fall, der ihn fünf Jahre lang beschäftigt hatte, „unter keiner der bekannten Krankheiten einreihen ließ“. Der Forscher beschrieb erstmals eine Form der präsenilen Demenz und dazu, was er im Gehirn seiner Patientin Auguste Deter entdeckt hat. Sie war erst 51 Jahre alt, als bei ihr die Symptome auftraten: Gedächtnisprobleme, geistige Verwirrtheit, Desorientierung. Bereits damals galten diese Anzeichen typisch für eine Altersdemenz. Dass auch jüngere Menschen an Demenz erkranken können, war unbekannt.
Heute steht der Begriff Alzheimer für die häufigste Form der Demenzerkrankungen. Nach Angaben der Deutschen Alzheimer Gesellschaft sind allein hierzulande schätzungsweise rund 1,2 Millionen Menschen betroffen – Tendenz steigend. Aufgrund der höheren Lebenserwartung der Menschen lauten die düsteren Prognosen der Experten, dass sich die Zahl der Erkrankten bis 2030 verdoppelt haben wird.
Alois Alzheimers Erkenntnisse wurden erst Jahrzehnte später umfassend gewürdigt. Wie so oft, braucht es einen Auslöser, der die Welt bewegt und die Aufmerksamkeit plötzlich auf Dinge lenkt, die bereits bekannt sind. Bei Alzheimer war es eine prominente Person, die Hollywood-Diva Rita Hayworth, die in den 1970er Jahren frühzeitig an Demenz erkrankte. Sie wurde einst als schönste Frau der Welt bewundert. Der Mythos zerbrach, als Fotos auftauchten, die eine sichtlich verwirrte und vermeintlich betrunkene Rita Hayworth zeigten. Bis dahin galt die bereits seit 1910 nach ihrem Entdecker benannte Alzheimer-Erkrankung als äußerst selten. Selbst die Person Alzheimer geriet in Vergessenheit, sogar in medizinischen Kreisen. Nicht im Gedächtnis geblieben war auch, dass das Geburtshaus des Psychiaters und Neuropathologen im unterfränkischen Marktbreit steht.
Dort kam er am 14. Juni 1864 zur Welt. Stolz verkündete der königliche Justizrat und Notar Eduard Alzheimer im Marktbreiter Wochenblatt „den lieben Verwandten, Freunden und Bekannten“ die Geburt seines zweiten Sohnes Aloysius. Der erste Sohn, Karl, stammt aus Eduard Alzheimers Ehe mit Eva Maria Sabina Busch aus Würzburg. Die junge Frau starb drei Wochen nach der Geburt am „Kindbettfieber“. Der Witwer heiratete ein Jahr später seine Schwägerin Barbara Theresia Busch. Nach Alois wurden noch fünf Kinder in Marktbreit geboren. 1878 zog die Familie nach Aschaffenburg und damit wieder näher an den Ort, wo einst der Urgroßvater Alois Alzheimers zu Hause war: im Wallfahrtsort Rengersbrunn im Spessart.
Dem Engagement von Konrad und Ulrike Maurer ist es zu verdanken, dass sich seit 1989 Besucher auf die Spuren des großen Sohnes der kleinen Stadt Marktbreit begeben können. Damals wurde das graue Steinhaus in der Ochsenfurter Straße als Geburtsort identifiziert, eine Gedenktafel an der Hausfassade angebracht und von Alzheimers Enkelin Hildegard Koeppen enthüllt sowie mit einem Internationalen Symposium der 125. Geburtstag des bedeutenden Mediziners gefeiert.
Professor Konrad Maurer, bis 1993 am Uniklinikum Würzburg tätig und bis 2009 Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie am Uniklinikum von Frankfurt am Main, richtete ab 1995 zusammen mit seiner Frau im Geburtshaus eine Gedenk- und Tagungsstätte ein. Seit diesem Jahr ist es im Besitz der Pharmafirma Lilly Deutschland. Ende 1996 folgte die Sensation: Professor Maurer entdeckte im Archiv der psychiatrischen Abteilung der Frankfurter Uniklinik die Original-Krankenakte Auguste Deters, der ersten bekannten und mittlerweile berühmten Alzheimer-Patientin.
Heuer steht der 150. Geburtstag an. Er wird dieses Mal in Marktbreit etwas ruhiger gefeiert – offiziell am 14. Juli (siehe unten stehende Information). Wer ohne offiziellen Anlass einen Blick in die Krankenakte Auguste Deters werfen möchte, kann dies bei einer Führung durchs Geburtshaus tun. Dort liegt in der Stube im Erdgeschoss, in der Alzheimer geboren und auf dem Namen Aloysius getauft wurde, ein Faksimile aus. Auch Alzheimers Mikroskop ist dort vorhanden. An der Wand hängen viele Familienfotos.
In Marktbreit verbrachte Alois Alzheimer seine ersten zehn Lebensjahre. Ab 1874 besuchte er das Humanistische Gymnasium in Aschaffenburg, 1883 begann er sein Medizinstudium in Berlin und setzte es ein Semester später in Würzburg fort. Vor allem die Arbeit am Mikroskop im Labor des Neuroanatomen Albert von Kölliker interessierte ihn sehr. Bei ihm promovierte er 1887 „Über die Ohrenschmalzdrüsen“. Aber auch das Studentenleben genoss Alzheimer in vollen Zügen. In Tübingen, wo er ein Semester lang studierte, brachte ihm seine Geselligkeit am 14. Februar 1887 sogar einen Eintrag ins Strafregister ein. Der Grund: „ungebührlicherweise erregter ruhestörender Lärm vor der Polizeiwache“.
Der Ernst des Berufslebens begann für Alzheimer Ende 1888 als Assistenzarzt in der „Städtischen Heilanstalt für Irre und Epileptische“. Sie geht auf Heinrich Hoffmann zurück, der heute weniger für seine damals unkonventionelle Behandlungsmethode ohne Zwangsjacken bekannt ist, sondern als Autor des „Struwwelpeter“.
Privat fand Alzheimer sein Glück bei Cecilie Geisenheimer. Die Heirat war im April 1894. Nur wenige Jahre war den beiden vergönnt. Kurze Zeit nach der Geburt des dritten Kindes starb seine Frau im Februar 1901. Im gleichen Jahr, im November 1901, wurde Auguste Deter in die Frankfurter Heilanstalt eingewiesen. Alois Alzheimer führte viele Gespräche mit ihr – damal eine ungewöhnliche Behandlungsmethode – und dokumentierte Frage und Antwort. Der oft zitierte beklemmende erste Dialog beginnt mit: „Wie heißen Sie? Auguste. Familienname? Auguste. Wie heißt Ihr Mann? Ich glaube, Auguste. Ihr Mann? Ja so mein Mann (versteht offenbar die Frage nicht) Sind Sie verheiratet? Zu Auguste.“
Als Auguste Deter im April 1906 starb, untersuchte Alzheimer – mittlerweile leitete er das hirnanatomische Laboratorium an der Psychiatrischen Klinik in München – ihr Gehirn und entdeckte den Grund ihres geistigen Verfalls: Eiweißablagerungen (Amyloid-Plaques) zwischen den Nervenzellen (Neuronen) sowie im Inneren verdickte und ineinander verklumpte Proteinfäden (Tau-Fibrillen). Die Zellen können nicht mehr zusammenarbeiten und sterben ab, die Gehirnsubstanz schrumpft. Bis heute ist trotz intensiver weltweiter Forschung, auch am Uniklinikum Würzburg, noch keine Möglichkeit gefunden worden, diesen laut Alzheimer „eigenartigen Krankheitsprozess“ zu stoppen, er kann, wenn er frühzeitig erkannt wird, höchstens verlangsamt werden. Und noch immer sind die Ursachen für diese unheilbare Gehirnstörung nicht bekannt.
Alois Alzheimer machte nicht nur die bahnbrechende Entdeckung, dass „Verblödung“ organische Ursachen haben kann und auf Veränderungen in der Hirnrinde beruhen; in diesem Punkt widerlegte er die Ansicht der Psychoanalyse, die Geisteskrankheiten auf frühkindliche Traumata zurückführt. Der „Irrenarzt mit dem Mikroskop“ machte in seinem kurzen Leben auch auch eine steile Karriere. Ab Juli 1912 übernahm er die Professur an der Psychiatrischen Klinik in Breslau. Doch die Folge einer Infektionskrankheit beendet seine Laufbahn frühzeitig. Am 19. Dezember 1915 starb er, gerade 51 Jahre alt, an Nierenversagen und wurde einen Tag vor Weihnachten neben seiner Frau in Frankfurt beerdigt.
Besuch in Marktbreit
Das Geburtshaus Alois Alzheimers befindet sich in der Ochsenfurter Straße 15 in Marktbreit (Lkr. Kitzingen). Ein Besuch ist gegen Voranmeldung möglich, ebenso eine Führung. Informationen gibt es bei der Tourist-Information, Tel. (0 93 32) 59 15 95; Fax: (0 93 32) 59 15 97; Kontakt per E-Mail: touristinfo@marktbreit.de
Der offizielle Festakt der Alzheimer-Gesellschaft Unterfranken und der Stadt Marktbreit zum 150. Geburtstag des Forschers findet am 14. Juli im Rathaus statt. Beginn ist um 18 Uhr.
Literatur: „Alzheimer. Spurensuche im Niemandsland“ von Michael Jürgs gibt es als Taschenbuch (Bertelsmann, 14,99 Euro). Die Biografie „Alzheimer“ (Piper) von Ulrike und Konrad Maurer ist nur antiquarisch erhältlich.
Informationen über die Alzheimer-Erkrankung im Internet: www.alzheimer-forschung.de