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WÜRZBURG
Im Schlafanzug in den Kreißsaal
Er ist der letzte Direktor, der im Würzburger Uniklinikum arbeitete und wohnte. Ende April verabschiedet sich der Chef der Frauenklinik, Professor Johannes Dietl, in den Ruhestand.
Abflug: Johannes Dietl, Direktor der Universitätsfrauenklinik in Würzburg, geht in den Ruhestand. Der Storch, symbolischer Kinderbringer, darf aber bleiben. Es ist die Arbeit eines Schülers aus dem Würzburger Wirsberg-Gymnasium aus dem Jahr 1997 und Teil der ständigen Kunstausstellung in der Klinik.
Foto: Theresa Müller | Abflug: Johannes Dietl, Direktor der Universitätsfrauenklinik in Würzburg, geht in den Ruhestand. Der Storch, symbolischer Kinderbringer, darf aber bleiben.
Christine Jeske
 |  aktualisiert: 25.04.2014 20:24 Uhr

Er geht, und bleibt – in Würzburg. Professor Johannes Dietl verlässt die Frauenklinik und zieht in den Stadtteil Frauenland. Klingt irgendwie passend für einen Frauenarzt. „Nur noch drei Tage“, sagt er und lächelt. Nicht etwa nur, weil er sich auf seine neue „Freiheit ohne die Verantwortung“ freut. Vielmehr hofft Dietl, dass er auch die letzte Phase als Direktor der Würzburger Universitätsfrauenklinik ohne Komplikationen übersteht. Dann könne er sagen, dass er sehr viel Glück gehabt habe in seinem langen Berufsleben als Gynäkologe, Geburtshelfer und Forscher. Ende April legt der leidenschaftliche Chirurg das Skalpell aus der Hand.

„Ein Operateur sollte am besten dann aufhören, wenn er noch im Vollbesitz seiner Kräfte ist. Er übt ja eine sehr differenzierte Tätigkeit aus, bei der Hände und Augen gleichermaßen gut funktionieren müssen“, beschreibt Johannes Dietl die Anforderungen an seinen Beruf. „Und diese Funktionen werden mit dem Alter nicht besser.“ Wichtig sei eine innere Ausgeglichenheit. Ein Zitat von Immanuel Kant fällt ihm dazu ein. Der große Denker habe die Hand mit dem äußeren Gehirn des Menschen verglichen. Bezogen auf Chirurgen heißt das: „Wer sich ärgert, kann nicht gut operieren.“

Wie es scheint, hat Johannes Dietl sich wenig geärgert – zumindest bei der Behandlung seiner Patientinnen. Es waren viele, nicht nur aus Würzburg, sondern aus der ganzen Region. „Er hat mein Leben gerettet“, dieser Satz fällt oft, wenn unter Frauen das Gespräch auf den Direktor der Universitätsfrauenklinik kommt. Er hat unzähligen Krebspatientinnen Tumore entfernt. Johannes Dietl hat aber auch etlichen Familien geholfen, ihren Kinderwunsch zu erfüllen.

Als letzter Vertreter seiner Zunft wohnte er direkt an seinem Arbeitsplatz in der Frauenklinik. Die Wohnung wird gerade „entrümpelt“. Probleme mit der unmittelbaren Nähe zu seinen Patientinnen hatte er nie. „Für mich hatte diese Lage nur Vorteile“, erzählt der Mediziner. „Ich konnte natürlich keinen über den Durst trinken, da ich ja immer im Dienst war.“ In den 18 Jahren als Klinikdirektor „kam es schon mal vor, dass ich im Schlafanzug in den Kreißsaal rannte, weil ein Kind stecken geblieben oder eine schwere Blutung aufgetreten war.“ Auch bei diesen nächtlichen Einsätzen ging alles glatt. „Wenn ich ins Schlafzimmer zurückgekehrt bin, konnte ich meiner Frau stets berichten, dass die brenzlige Situation zum Guten gewendet wurde.“

Auch für die Mitarbeiter sei es beruhigend gewesen, dass der Chef immer greifbar war. „Ich bin auf einem Bauernhof aufgewachsen, da lag das Wohnhaus neben dem Stall. So gesehen, war das hier in der Frauenklinik kein großer Unterschied.“ Zudem sei ihm der Umgang mit Menschen immer leicht gefallen. „Wobei ich keinen Unterschied in der gesellschaftlichen Stellung machte. Allein das Wohl der Frauen hat meine ärztlichen Entscheidungen bestimmt. Das liegt sicherlich an meiner persönlichen Entwicklung.“

Dass Johannes Dietl einmal Medizin studieren und ein so großes Haus wie die Würzburger Frauenklinik mit Hebammenschule, Mutter-Kind-, Kinderwunsch- und Brustzentrum leiten würde, das war nicht abzusehen. Sein Werdegang ist keineswegs geradlinig. Er bog in vermeintliche Sackstraßen ein, machte abrupte Kehrtwenden, lotete Umwege aus, blickte in Seitengassen, bis er wusste, wohin die Reise gehen sollte. „Ich habe meine Kindheit in dem kleinen Dorf Schönthal in der Oberpfalz verbracht.“ Die Eltern hatten genaue Vorstellungen, was aus ihren Söhnen werden sollte. Der ältere robuste Bruder sollte die Landwirtschaft übernehmen. „Ich war eher von schwächlicher Konstitution und sollte unbedingt Priester werden. Deshalb schickte mich meine Mutter in die Augustiner-Klosterschule nach Weiden.“ Daraus wurde nichts, obwohl ihm die geistige Arbeit in Kloster besser gefiel als die körperlichen Strapazen im bäuerlichen Betrieb. Dennoch verließ Johannes Dietl die Klosterschule im Alter von 14 Jahren, weil er es in einem Schlafsaal mit 50 Schülern einfach nicht aushielt. „Alles war beengt. Privatsphäre gab es keine.“

Ohne Schulabschluss kehrte er in sein Heimatdorf zurück und besuchte dort ein Jahr lang die landwirtschaftliche Berufsschule. Damals hatte Johannes Dietl keine Vorstellung, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Auf dem Arbeitsamt erfuhr er, dass die Chemiefabrik BASF in Ludwigshafen Lehrstellen zu vergeben hatte. Bangen Herzens verließ er 1963 erneut sein Elternhaus, hoffte, dass ihm die Arbeit Spaß mache – und dass kein Schlafsaal auf ihn wartet. Johannes Dietl hatte Glück. „Die Betreuung der Lehrlinge erfolgte in dem sehr freiheitlich eingestellten Christlichen Jugenddorf, kurz CJD, in Neustadt an der Weinstraße.“ Er erinnert sich gerne an die kleinen Wohneinheiten, die gute Verpflegung, an die Sportangebote – und an viele gute Gespräche. Auch bei seiner Arbeit im Forschungslabor und dem „entsprechenden intellektuellen Niveau“ fühlte er sich bestens aufgehoben. „Diese Zeit prägte mich, so dass in mir die Entscheidung reifte, das Abitur nachzuholen.“ Doch zuerst rief die Bundeswehr, anschließend bereitete er sich nach der Arbeit als Chemielaborant im Fernstudium auf sein Abitur vor, das er 1971 als Externer an der Hohen Landesschule in Hanau ablegte. „Da ich damals wie ein Eremit in einem Zimmer ohne Dusche wohnte, besuchte ich regelmäßig das Hallenbad und die Sauna in Ludwigshafen.“ Dort kam es des öfteren vor, dass er mit Helmut Kohl, damals Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, gemeinsam schwitzte. Näher gebracht hat das die beiden Männer einander nicht. Jeder hing wohl seinen tiefen Gedanken nach.

Johannes Dietl wusste nun, was er wollte. Er studierte Medizin in Freiburg. In der quirligen Studentenstadt gab er sein Eremitenleben auf, er lernte seine Frau kennen, eine angehende Lehrerin. Sie bestimmte, wohin es ging. „Meine Frau hatte in Baden-Württemberg keine Stelle gefunden“, erzählt Dietl. „Da es mir egal war, wo ich landen würde, sagte ich zu ihr, sie solle sich in ganz Deutschland bewerben.“ Dass sie am nördlichsten Gymnasium der Bundesrepublik – in Westerland auf Sylt – fortan unterrichten sollte, war dann schon eine Überraschung.

Die nächstgelegene universitäre Frauenklinik war in Kiel. Dort begann Dietl seine klinische Ausbildung – und lernte eine damals völlig neue Art des Operierens. „Kiel war damals das Mekka der Bauchspiegelung. Ich durfte 1980 die weltweit erste Entfernung des Blinddarms per laparoskopischer Chirurgie bei Kurt Semm assistieren.“ Das konventionelle Operieren lernte Johannes Dietl allerdings in Tübingen bei Professor Hans Hirsch. „Er war ein Meister seines Faches.“

Kiel und Tübingen sind Johannes Dietl noch aus anderen Gründen in bleibender Erinnerung. Dort wurden seine Kinder geboren, eine Tochter und zwei Söhne, laut dem Oberpfälzer Dietl „zwei Kieler Sprotten und ein Schwabe“. Ab April 1996 lernte die Familie dann die fränkische Mentalität kennen.

Auf den neuen Klinikdirektor warteten damals große Herausforderungen. „Als ich in Würzburg anfing, befand sich die Frauenklinik in einem desolaten baulichen Zustand.“ Heute sei es zwar immer noch das alte Gebäude, „aber es ist – zum Teil unter erheblichen Härten für Patienten und Beschäftigte – bei laufendem Betrieb schrittweise renoviert und modernisiert worden.“

Eine weitere Aufgabe war für ihn damals der Umgang mit dem Paragrafen 218. „Als ich vom liberalen Tübingen in das tief katholische Würzburg kam, habe ich mich zunächst vorsichtig an das Problem herangetastet.“ Johannes Dietl wollte Frauen mit einer sozialen Notlagenindikation nicht mehr einfach wegschicken und anderen die Durchführung des Schwangerschaftsabbruchs auferlegen. Das führte zu Turbulenzen, erinnert er sich. „Kirchenvertreter redeten auf mich ein, und einzelne erzkonservative Schwestern weigerten sich, die Patientinnen zu versorgen.“ Es habe auch Befürchtungen gegeben, die Frauenklinik verkomme zu einer „Abbruchklinik“. Dem war nicht so. „Vertreter der Landesregierung waren letztlich dankbar, dass wir uns dieses Problems angenommen haben und die Frauenklinik ihrem Versorgungsauftrag nachgekommen ist.“

Neben der Leidenschaft fürs Operieren und der Fürsorge für seine Patientinnen hat Johannes Dietl noch ein anders Faible: Er interessiert sich sehr für historische Themen. „Ich erhalte seit über 40 Jahren Unterricht in Geschichte und Literatur von meiner Frau.“ Sie unterrichtet diese Fächer am Würzburger Wirsberg-Gymnasium. „Ich war immer ein aufmerksamer Schüler.“

Anlässlich der 200-Jahr-Feier der Frauenklinik 2005 arbeitete Dietl erstmals das dunkle Kapitel der Nazi-Vergangenheit auf – eine Zeit der „Medizin ohne Moral“, so Dietl. „Mir ging es darum, Ross und Reiter zu nennen und die wahren Geschehnisse offenzulegen. Aber eine Verurteilung wollte ich nicht vornehmen, denn ich weiß nicht, wie ich mich damals verhalten hätte.“

Auch seine Abschiedsvorlesung hat ein historisches Thema. Anfang Mai wird Johannes Dietl über „Wilhelm II. – Die Geburt, die die Welt veränderte“ beziehungsweise über die Komplikationen bei einer Steißlage sprechen. Der Kronprinz aus dem Hause Hohenzollern überlebte seinen Start in die Welt am 27. Januar 1859 nur knapp, seinen linken Arm konnte er zeitlebens nur eingeschränkt bewegen. Erstmals wurde damals bei einer Geburt das Narkosemittel Chloroform eingesetzt.

Achim Wöckel wird der Nachfolger von Johannes Dietl. Er kommt von der Universitätsfrauenklinik in Ulm. Es waren mehrere Anläufe notwendig, um die Stelle des Klinikdirektors neu zu besetzen – eine Situation, die sich über drei Jahre hinzog und die Johannes Dietl sehr belastet hat. „Neben dem Gefühl der Entmündigung musste ich feststellen, dass einige Personen aus meinem beruflichen Umfeld mich mieden, da ich ja nicht mehr ihren Interessen dienen konnte.“ Diese Erfahrung bezeichnet er als „ziemlich bitter“. Es ist dies jedoch der einzige berufliche Ärger, von dem der scheidende Klinikchef erzählt. Stolz ist er, dass die Frauenklinik trotz der langwierigen Nachbesetzung bis heute auf hohem Niveau arbeitet. Als er 1996 anfing, „standen gerade mal zwei Patientinnen auf dem Operationsplan. Heute sind es durchschnittlich zehn Frauen am Tag. Damals haben täglich etwa drei Frauen im Kreißsaal entbunden, heute sind es fünf.“

Wer 18 Jahre lang eine große Klinik geführt hat, der wird sich jetzt nicht einfach ruhig in den Sessel setzen. „Ich werde nicht bloß faulenzen, aber durchaus die Unabhängigkeit von Terminen genießen.“ Ganz nebenbei erzählt er von zwei Listen, die er angefertigt hat. „Auf der einen steht, was ich nicht mehr machen muss, auf der anderen, worauf ich mich freue. Die erste Liste hole ich dann hervor, wenn ich im Ruhestand einmal unzufrieden bin.“

Der Anfang in Würzburg: Johannes Dietl im Jahr 1996.
Foto: Stefan Pompetzki | Der Anfang in Würzburg: Johannes Dietl im Jahr 1996.
 
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