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„Ich wollte Nazi-Deutschland wehtun“
Sport: Gretel Lambert, geborene Bergmann, war einst die beste deutsche Hochspringerin. Die Nazis betrogen die Jüdin 1936 um Olympia und einen möglichen Sieg und vertrieben sie aus ihrer Heimat. Sie emigrierte nach New York. Dort feiert sie heute ihren 100. Geburtstag.
redsp
 |  aktualisiert: 11.04.2014 20:03 Uhr

Die Biografie von Gretel Lambert, geborene Bergmann, ist ein Stück deutsche Sportgeschichte. 2008 wurde das Schicksal der jüdischen Athletin aus dem schwäbischen Laupheim verfilmt (Berlin 36“). An diesem Samstag wird Deutschlands einst beste Hochspringerin 100 Jahre alt. Zuvor gab Margaret Lampert, wie sie sich seit ihrer Emigration 1937 nach New York nennt, dieser Zeitung ein exklusives Telefoninterview.

Frage: Frau Lambert, wie geht es Ihnen kurz vor Ihrem 100. Geburtstag?

Margret Lambert: Also, ich bin völlig klar im Kopf, da ist alles gut. Allerdings bin ich vor ein paar Monaten gefallen. Das ist mir noch nie passiert. Dabei habe ich meinen linken Arm gebrochen. Und nun habe ich Angst, allein zu laufen.

Sind Sie allein zu Hause?

Lambert: Nein, mein jüngerer Sohn Glenn lebt hier. Er kocht für mich, und er ist einfach wunderbar.

Wie feiern Sie am Samstag?

Lambert: Wir haben unsere Freunde eingeladen. Ungefähr 50 Personen. Wir werden eine schöne Zeit haben.

Welche Ziele haben Sie noch?

Lambert: Einfach jeden Tag einen Tag älter zu werden. (lacht) Dass ich jetzt 100 werde, ist schon ein Wunder. Eigentlich habe ich auf meine Lebensweise nie besonders geachtet.

Haben Sie Frieden gemacht mit Deutschland?

Lambert: Oh ja. Bis in die 90er Jahre hinein war ich verbittert. Berlin hatte sich für die Sommerspiele 2000 beworben. Aber niemand kam zu mir und entschuldigte sich dafür, was mir 1936 angetan wurde. Ich schrieb einen bitterbösen Brief an das Nationale Olympische Komitee. Der damalige Präsident Walther Tröger schrieb mir zurück und lud mich nach Deutschland ein. Das wollte ich nicht. Trögers Einladung, Ehrengast 1996 in Atlanta zu sein, konnte ich aber nicht widerstehen. Irgendwann war das Eis gebrochen.

Sie haben lange Zeit nicht Deutsch gesprochen, hatten vollkommen mit Deutschland gebrochen.

Lambert: Als ich 1937 in die USA ausgewandert bin, wollte ich nichts, aber auch gar nichts mit Deutschland zu tun haben. Zwar hat meine Familie den Holocaust überlebt, aber mein Mann hat seine Angehörigen verloren. Alle sind in Konzentrationslagern umgebracht worden.

Und was hat Ihre Meinung geändert?

Lambert: Ich habe erkannt, dass die jungen Menschen in Deutschland nichts mit dem zu tun haben, was die Nazis verbrochen hatten. Deshalb können sie dafür auch nicht verantwortlich gemacht werden. Ich war so dumm, das Jahrzehnte nicht einzusehen. Aber ich bin schlauer geworden.

Sie gehörten zu den weltweit besten Hochspringerinnen. Wie hatten Sie es so weit gebracht?

Lambert: Ich weiß es nicht. Ich habe große Füße und lange Beine – das sind prima Voraussetzungen.

Das kann es allein kaum gewesen sein.

Lambert: Ich habe nicht besonders hart trainiert. Es ist halt passiert. Ich habe es einfach gemocht, mich zu bewegen. Training war mir viel lieber als Schularbeiten machen.

Sie trainierten anfangs in Laupheim und später in Ulm. 1933, nachdem die Nationalsozialisten an die Macht gekommen waren, waren Sie in Ihrem Ulmer Verein nicht mehr willkommen. Sie durften die Sportanlagen nicht mehr betreten. Was war das für ein Gefühl?

Lambert: Das war schrecklich. Ich war da mit sehr vielen dick befreundet. Und auf einmal wird dir gesagt: Komm nicht mehr! Niemand spricht mehr mit dir, du wirst geschnitten. Das war sehr schlimm.

Wann spürten Sie, dass etwas nicht stimmt in diesem Land?

Lambert: Das war zu dieser Zeit. Ich konnte in Ulm nicht mehr trainieren, auch in Laupheim war es unmöglich. Wir durften keine Restaurants mehr betreten, fühlten uns wie Ausgestoßene.

Sie sind doch aber bereits früher in Ihrem Heimatort vom Nachbarsjungen als „dreckige Jüdin“ beleidigt worden.

Lambert: Na ja, da war er ein Kind, acht Jahre alt. Ich war auch acht. Ich hab ihn zu Boden geworfen und ordentlich vermöbelt. Der hat danach nie mehr so etwas zu mir gesagt.

Nach dem faktischen Trainingsverbot in Deutschland wurden Sie 1933 von ihren Eltern nach England geschickt, um dort zu studieren. 1934 wurden Sie britische Hochsprungmeisterin. Ihr Vater besuchte Sie – nicht ohne Grund.

Lambert: Die Briefe, die wir uns schickten, wurden zensiert, die Telefongespräche belauscht. Deshalb ist mein Vater nach England gekommen. Er hat mir gesagt, ich müsse mit zurück nach Deutschland, weil sonst die Familie Schlimmes befürchten müsste. Ich habe um das Leben meiner Angehörigen gefürchtet. Nach all dem, was mir mein Vater erzählt hatte, gab es keinen Zweifel, dass die Nazis meine Familie töten würden.

Wussten Sie damals, warum Sie zurückkommen sollten?

Lambert: Erst später war mir klar: Die Nazis wollten mich bei Olympia dabeihaben, weil Amerika und andere Länder mit Boykott drohten, falls jüdische Athleten aus der deutschen Mannschaft ausgeschlossen werden.

Die Nazis hatten Sie gezwungen, aus England zurückzukehren. Hatten Sie da Vertrauen, an den Olympischen Spielen teilnehmen zu dürfen?

Lambert: Ich war sehr im Zweifel. Aber ich wollte beweisen, zu was eine Jüdin fähig ist. Wir wurden ja von der Nazi-Propaganda als faule, minderwertige Missgeburten hingestellt.

Am 27. Juni 1936, fünf Wochen vor den Spielen, stellten Sie mit 1,60 Meter den deutschen Hochsprung-Rekord ein. Wie zuversichtlich waren Sie zu dem Zeitpunkt, in Berlin eine Medaille zu holen?

Lambert: Ich hatte berechtigte Hoffnung. Die spätere Olympiasiegerin hat mit 1,60 Metern gewonnen. Mir ging es aber nur darum, die deutschen Athleten zu schlagen. Mich hat der Hass auf das Regime angetrieben. Ich wollte Nazi-Deutschland wehtun mit meinem Sieg.

Und dann bekamen Sie Mitte Juli Post vom Deutschen Reichsbund für Leibesübungen – als die US-Mannschaft bereits auf dem Atlantik Richtung Europa unterwegs war. „Der Herr Reichssportführer hat es nicht vermocht, Sie in die Olympiamannschaft einzureihen“, stand da. Welche Gedanken sind Ihnen durch den Kopf geschossen?

Lambert: Ich habe geflucht wie ein Lastwagenfahrer. Das war sehr perfide gemacht. Den anderen Athleten wurde erzählt, dass ich mich verletzt hätte. Eine glatte Lüge.

Als Ausgleich wurde Ihnen eine kostenlose Eintrittskarte für einen Stehplatz im Olympiastadion angeboten.

Lambert: Und glauben Sie mir: Die habe ich natürlich nicht genommen.

Zumal Sie die Anreise und Ihren Aufenthalt hätten selbst bezahlen müssen.

Lambert: Zur Hölle mit denen!

1937 haben Sie Deutschland verlassen und in New York eine neue Heimat gefunden. Wie schwer fiel Ihnen das?

Lambert: Das war sehr schwer. Ich habe meine Familie verlassen, meinen Vater, meine Mutter, meinen jüngeren Bruder. Der ältere Bruder ist drei Monate vor mir in New York eingetroffen. Als ich ankam, hatte ich gerade mal vier Dollar in der Tasche. Mehr durften Juden nicht mitnehmen. Ich habe meinen wunderbaren Fotoapparat verkauft, damit ich Geld hatte, um mir etwas zu essen zu kaufen. Es war eine harte Zeit. Ich habe mich als Putzfrau und Kindermädchen durchgeschlagen, habe dicke Frauen massiert in einem Salon für Gewichtsabnahme. Später war ich als Physiotherapeutin tätig.

Den Hochsprung haben Sie dennoch nicht aufgegeben. Sie wurden 1937 und 1938 US-Meisterin mit 1,58 Meter. Und 1937 haben Sie auch im Kugelstoßen die amerikanische Meisterschaft geholt.

Lambert: Ja, das war die lustigste Sache überhaupt. Denn meine Konkurrentinnen wogen alle so um die 100 Kilogramm. Und da kam ich daher, spindeldürr, nahm die Kugel und warf sie am weitesten.

Ein Naturtalent.

Lambert: Das würde ich schon sagen. Egal ob ich Ski gefahren oder geschwommen bin – das alles habe ich mir selbst beigebracht.

Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges haben Sie Ihre Karriere beendet. Ihr Mann Bruno Lambert, ein Leichtathlet und Arzt, war inzwischen bei Ihnen, Ihre Familie ebenfalls. Sie haben zwei Söhne bekommen.

Lambert: Das war eine harte Zeit. Wenn ich mir vorstelle, dass mein Vater, dem in Laupheim eine Haarfabrik gehört hat, alles zurücklassen musste. Er hatte nichts mehr, kam über England zu mir in die USA – mit drei Dollar in der Tasche.

Sie haben lange gebraucht, um sich den Menschen in Deutschland wieder zu öffnen. Trug Ihr Briefwechsel mit Burkhard Volkholz, dem Vorsitzenden Ihres alten Vereins TSV Laupheim, dazu bei?

Lambert: Der Briefkontakt, den Volkholz im Jahr 1980 begann, war sicher ein Grund dafür. Wir sind sehr gute Freunde geworden.

Nach fast zwei Jahrzehnten des Briefeschreibens haben Sie es gewagt und sind 1999 in Ihre Heimatstadt gekommen. 2003 waren Sie noch einmal in Laupheim. Was haben Sie da gefühlt?

Lambert: Ich war glücklich, in Laupheim zu sein. Die Menschen waren sehr freundlich zu mir. Und ich habe gemerkt, was ich für ein Narr gewesen bin, gegen all die Leute was gehabt zu haben, die mit der Sache überhaupt nichts zu tun hatten.

Erst vor fünf Jahren wurde Ihr deutscher Hochsprungrekord von 1936 anerkannt.

Lambert: Das hätte schon ein paar Jahre früher sein können. Aber es ist noch rechtzeitig geschehen. (lacht)

Was wünschen Sie sich zu Ihrem 100. Geburtstag?

Lambert: Ich weiß, was ich mir nicht wünsche: 200 Jahre alt zu werden.

 
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