Es tut mir sehr leid, aber das ist ganz sicher Krebs.“ Als die Ärztin im Klinikum Singen diese Worte sagt, liege ich da wie betäubt. Mit dem Ultraschallgerät ist sie mehrere Minuten sanft über meine linke Brust gefahren, hin und her, hinauf und hinunter. Mitten in dem hellen, sanft strukturierten Gewebe befindet sich ein schwarzer Fleck, scharf konturiert, etwa einen Zentimeter groß. Seit Monaten spüre ich eine flächige Verhärtung; an Krebs hatte ich nie gedacht.
Ich liege da, als wäre dieser Körper gar nicht meiner, während die Ärztin sichtlich beunruhigt weitermacht, die andere Brust untersucht, die Lymphknoten in den Achseln und am Ende die Leber. Immerhin: Abgesehen von dem Knoten in der Brust findet sie nichts. Alle Lymphknoten sind frei, die Leber auch – keine Metastasen also.
Diese letzte Information kommt bei mir schon gar nicht mehr an. Krebs. Ich? Das kann nicht sein. Ich bin 47 Jahre alt, stehe mitten im Berufsleben, liebe meine Arbeit als Journalistin. Zu Hause warten mein Mann und meine Katze auf mich, meine Familie, meine Freunde. Ich habe immer gesund gelebt, rauche nicht. Okay – Bewegung könnte etwas mehr sein. Aber Krebs?
Die Ärztin entnimmt mit einem Stanzapparat zwei Proben aus meiner Brust. Mein Körper wird nur leicht durchgeschüttelt, als die Kanüle hineingeschossen wird. Aber meine Seele erzittert bis in ihre Grundfesten. Als die Untersuchung zu Ende ist, sagt die Krankenschwester, die dabei ist, mitfühlend: „Sie können jetzt aufstehen.“
Sterben muss jeder – eine banalere Erkenntnis gibt es nicht. Philosophie und Religionen haben jahrhundertelang darüber nachgedacht und unterschiedliche Lösungen dafür gefunden. Auferstehung, Jenseits, Nirwana . . .
Doch diese spirituellen Überzeugungen sind vielen modernen Menschen verloren gegangen, meint der Literaturwissenschaftler Helmut Bachmaier. „Wir leben in einer Leistungsgesellschaft, in der Menschen jung, vital und dynamisch sind“, sagt der Altersforscher. Der Tod, dem keiner entrinnen kann, sei die Negation dieses Menschenbildes. „In unserer Gesellschaft ist alles sehr zerbrechlich – denken Sie an den Flugzeugabsturz in den französischen Alpen“, sagt er.
Wer dem Tod ins Gesicht blicke, verliere auch die Angst davor, wie der Philosoph Michel de Montaigne gesagt hat. Philosophen waren sich immer einig, dass der Tod zum Leben gehört – ohne Tod gäbe es auch kein Individuum, so der Soziologe und Philosoph Georg Simmel. „Verdränge ich den Tod, verdränge ich dadurch auch mich“, so Bachmaier. Auch mir ging das nicht anders. Testament, Patientenverfügung? Klar. Irgendwann später einmal. Vielleicht mit 60 oder 70. Als wenn sich der Tod immer an die Pläne der Menschen hielte. Nicht jeder wird 70 oder 80. Das Leben kann von heute auf morgen zu Ende sein. Ein Autounfall, in den man unverschuldet gerät, eine geplatzte Ader im Bauch oder Gehirn – all das ereilt nicht nur Menschen im hohen Alter.
Der Glaube an unsere Unsterblichkeit ist eine Illusion – aber eine verständliche. Wir müssen jeden Tag zur Arbeit, haben vielleicht Kinder, unsere Eltern, unsere Hobbys: Da ist keine Existenzialphilosophie, da ist handfestes Zupacken gefragt. Deshalb betonen manche Experten auch, dass Verdrängen im Alltag nicht die schlechteste Methode ist: „Nicht jeder muss über seinen Tod nachdenken“, sagt Gerhild Becker, Professorin für Palliativmedizin am Uniklinikum Freiburg.
Allerdings sei es gut, wenn man Sterbenden einen Raum biete, in dem sie Ängste ansprechen könnten. Becker meint, dass vor allem die ungebremst agierende moderne Medizin viel zur Angst der Menschen vor dem Sterben beigetragen habe.
Frühere Generationen hätten noch ein tiefes Wissen um die Endlichkeit des Lebens gehabt. Rituale halfen bei den Lebensübergängen und spendeten Trost. Doch dies sei dem modernen Menschen verloren gegangen. „Abschiede, Trennungen, Verluste, Lebensübergänge wie Schulabschluss oder Rente – jeder Abschied ist ja eigentlich ein kleines Sterbe-Erlebnis“, meint sie. Gestorben werde heute im Krankenhaus oder im Altenheim: „Wir haben den Tod outgesourct“, sagt sie. Becker lädt Schulklassen in ihre Palliativstation ein. „Unsere Patienten freuen sich, und auch für die Kinder ist es gut.“ Hinschauen statt wegschauen also.
Kaum jemand hat dieses Wegschauen so gut auf den Punkt gebracht wie Ingmar Bergman in seinem düsteren Film „Das siebente Siegel“. Da sägt der Tod einem Schauspieler, der sich vor dem Sensenmann auf einen Baum geflüchtet hat, den rettenden Ast ab. „Aber mein Kontrakt! Ich habe einen Kontrakt!“, versucht der Schauspieler um sein Leben zu feilschen. „Ist gekündigt“, sagt der Tod und sägt weiter. „Keine Ausnahmegenehmigung für Schauspieler?“ – „In diesem Falle nicht“, lautet die Antwort, bevor der Mann abstürzt und sich das Genick bricht.
Vom Tod von Verwandten weiß ich, dass das Ende eine Befreiung sein kann. Doch über den eigenen Tod nachzudenken, tut zunächst weh. Aber das Nachdenken beruhigt auch. Was will ich am Ende meines Lebens, was will ich nicht? Und vor allem: Was will ich bis dahin noch tun, was erleben, was im Umgang mit anderen Menschen und mit mir selbst besser machen?
Doch zunächst stürze ich mich in die Recherche. In kurzer Zeit kenne ich mich aus in Sachen hormonpositive, HER-positive und dreifach-negative Brustkrebse. Ich entscheide: OP und Bestrahlung ja, Chemotherapie nein. Zwei nahe Verwandte von mir sind trotz Chemotherapie qualvoll an Krebs gestorben. Das will ich nicht – dann lieber noch ein paar gute Jahre. Die Lebensqualität ist mir wichtiger als reine gewonnene Lebenszeit. Mein Mann unterstützt meine Entscheidung ebenso wie meine Familie.
Als die Ärztin mir zwei Wochen später die Ergebnisse der Biopsie vorstellt, strahlt sie mich an: Der Tumor ist hormonpositiv – eine gute Nachricht. Diese Tumoren sprechen auf eine weniger belastende Anti-Hormon-Therapie an. Bis zur OP bleiben mir noch drei Wochen Zeit. Eine Woche davon gönne ich mir Wellness – ich will meinen Körper noch einmal so spüren, wie er war.
In einer Buchhandlung finde ich das Buch „Das Prinzip Apfelbaum. Was bleibt?“, in dem Prominente, fotografiert von Bettina Flitner, von den Gedanken erzählen, die sie angesichts ihres eigenen Todes haben, was sie weitergeben wollen, was am Ende von ihnen bleiben soll. Die Geigerin Anne-Sophie Mutter umarmt in einem leeren Konzertsaal Musik und Publikum; der Bergsteiger Reinhold Messner blickt mit grauweißem Bart von einem Berg in die Ferne. Er sagt: „Wenn ich den Tod als das selbstverständliche Ende meines Daseins annehme, kann ich mein Leben viel besser ausfüllen. Ich genieße die Möglichkeit, zu gestalten. Ich genieße die Möglichkeit, zu erfahren.“
Ich merke, dass ich allmählich ruhiger werde. Es kann sein, dass ich diese Krankheit nicht überlebe. Es kann aber auch sein, dass ich damit 90 werde. Zurück von der Wellness-Woche beginne ich, die wichtigsten Dinge in meinem Leben zu ordnen. Zwei Wochen habe ich noch bis zur OP. Für ein Testament oder eine Patientenverfügung reicht mir die Zeit nicht. Aber ich besorge eine Bankvollmacht für meinen Mann, denn bislang hatten wir getrennte Konten. Es ist schon unheimlich, wenn man in die Bankfiliale geht, in der man sonst Überweisungen abgibt und Schweizer Franken zum Bummeln in Zürich tauscht und sagt: „Ich möchte meinem Mann eine Bankvollmacht einräumen.
Was müssen wir genau tun?“
Die Banker fragen nicht nach. Aber das Erstaunen ist in ihren Augen abzulesen. Statt einer Patientenverfügung setze ich ein Schriftstück auf, laut dem, sollten bei der OP Komplikationen auftreten und ich ins Koma fallen, die lebenserhaltenden Geräte nach einer Woche abgeschaltet werden sollen. Auch eine Magensonde zur künstlichen Ernährung lehne ich ab. Mein Verstand und mein freier Wille gehen mir über alles.
Von diesem Papier wird auch die operierende Ärztin unterrichtet. Sie sagt: „Es ist gut, wenn wir das wissen.“ Mit meinem Mann spreche ich darüber, wie ich beerdigt werden möchte, falls die Operation schiefgeht, auch wenn eine Brustkrebs-OP kein schwerer Eingriff ist. Ich wünsche mir eine Bestattung in einem Friedwald, weil ich die Natur liebe. Wald und Vogelgezwitscher haben mir bei meinen Spaziergängen vor der OP gut getan, sie haben mein Gedanken-Karussell gestoppt und mich daran erinnert, dass ich Teil des großen Ganzen bin, das kommt und geht.
Am Tag der OP sein Leben in die Verantwortung anderer Menschen legen – das ist eine erste Übung für das, was uns für unseren großen Abschied bevorsteht. Als ich aufwache, kann ich wegen des engen Verbandes kaum atmen. Aber alles ist gut gegangen. Am Morgen danach ist der Himmel noch fast dunkel, als ich erwache. Aber über dem Horizont steht eine schmale Mondsichel, dicht neben ihr ein leuchtender Stern. Ich bin mir sicher, noch nie so etwas Schönes gesehen zu haben. Die Wochen vergehen, die Wunde verheilt, die Narbe wird blasser. Die Strahlentherapie, die von Frauen, die eine Chemo hinter sich haben, als Spaziergang bezeichnet wird, kostet erneut Kraft. Aber die Prognose ist gut. Dieses Mal noch wird der Tod mich gehen lassen. Aber er hat sich mir schon einmal vorgestellt, sage ich zu Verwandten. Und wenn es dann soweit ist, will ich sagen können: Willkommen.
Testament und Patientenverfügung – das sind die nächsten Aufgaben, die vor mir liegen. Obwohl das genau genommen nicht stimmt. Meine wichtigsten Aufgaben der Zukunft sind: gesund werden; wieder im Meer schwimmen. Wir sind alle nur eine begrenzte Zeit hier – wir sollten sie nutzen. Dazu gehört auch, sich rechtzeitig Gedanken über den eigenen Tod zu machen. Denn sonst laufen wir Gefahr, dass am Ende andere für uns entscheiden.