„Sensationelle Zeugnisse aus dem 14. Jahrhundert – Jüdische Grabsteine im Mauerwerk der Landelektra“, titelte die Zeitung am 14. Januar 1987. Bei Abbrucharbeiten in der Würzburger Pleich waren Steinbrocken mit hebräischen Grabinschriften entdeckt worden. Sehr sehr viele Steinbrocken, und sie waren erstaunlich gut erhalten. Verbaut in den Mauern des ehemaligen Markus-Klosters waren die Grabsteine gut konserviert worden. Zwar hatten die mittelalterlichen Steinmetze und Handwerker und die neuzeitlichen Abrissbagger heftige Spuren hinterlassen. Aber immerhin waren die Inschriften überhaupt vor der Verwitterung geschützt und erhalten geblieben.
Und immer mehr Bruchstücke kamen im Abrissschutt ans Licht: 1456 Grabsteine und Grabsteinfragmente waren es am Ende, sie entstammen der Zeit zwischen 1148 und 1346. Theologieprofessor Karlheinz Müller, Judaist und Lehrstuhlinhaber an der Würzburger Universität, hatte quasi noch auf der Baustelle begonnen, die ersten gut lesbaren Grabinschriften zu übersetzen. Über die Bedeutung und den Wert des Fundes waren sich der Theologe, Historiker und Denkmalschützer schnell klar: Nirgendwo sonst gab es mehr jüdische Grabsteine aus der Zeit vor der Pest. Was hier in den Mauern des ehemaligen Dominikanerinnenklosters gesteckt hatte, konnte als größte Hinterlassenschaft aus einem mittelalterlichen Judenfriedhof weltweit angesehen werden.
25 Jahre nach dem Sensationsfund liegt jetzt die aufwändige Dokumentation und Edition der jüdischen Grabsteine aus Würzburg vor. Die Herausgeber, Professor Karlheinz Müller und seine israelischen Professorenkollegen Simon Schwarzfuchs und Avraham (Rami) Reiner, haben darin alle Erkenntnisse und Ergebnisse zu den Steinen und Inschriften zusammengetragen und erläutert. Wuchtige 2500 Seiten mit 1800 Abbildungen in drei Bänden umfasst die Edition. Und die zehn Kilo Gewicht scheinen der Publikation angesichts der 70 Tonnen Steine, die hier wissenschaftlich aufgearbeitet wurden, geradezu angemessen.
Für die Forscher waren die Steine aus dem Abbruchhaus sofort interessant – schon allein, weil sie großteils datiert waren. Doch auch, weil sie Zeugnis geben vom hohen Ansehen und vom Bildungsrang der Würzburger Judengemeinde im Mittelalter. Doch wohin mit den schweren Brocken? Was mit den hebräischen Inschriften tun?
Nach lautem Bürgerprotest hatte das bayerische Kultusministerium schließlich einen mehrwöchigen Abbruchstopp bezahlt, im Sommer 1987 fanden die geborgenen „Judensteine“ schließlich auf dem Würzburger „Rotkreuzhof“ einen Platz, wo sie systematisch entziffert und erforscht werden konnten.
19 Jahre sollten sie dort liegen. Rund 175 Theologiestudenten der Universität machten sich während acht Semestern daran, in 4271 kostenlosen Stunden, die Fragmente zu registrieren, abzubürsten und zu säubern und dann zu fotografieren. Zu den schwierigsten Aufgaben hätten die Versuche gehört, die zerschlagenen und auseinandergerissenen Friedhofsteine wieder zusammenzusetzen, erzählt Karlheinz Müller. Bei einer ersten Lesung aller hebräischen Aufschriften half Rabbiner Simcha Bamberger, der Ururenkel des „Würzburger Rav“. 1996 begann dann ein von der German-Israeli-Foundation bezahltes Forscherteam um Müller, die Legenden auf den Steinen zu lesen und zu studieren.
Die Fundgeschichte der Würzburger Steine, die Einordnung des jüdischen Friedhofs und seine Dimension im europäischen Zusammenhang, Kommentare zu den Inschriften, Untersuchungen zu den eingravierten Namen, dem Alter der Toten, ihrer Herkunft, ihrer Ämter, Titel, Ehrenbezeichnungen – all das ist jetzt in den drei Bänden zusammengefasst.
Das wichtigste für Judaist und Herausgeber Karlheinz Müller: Heute sind die Zeugen mittelalterlichen Judentums in einem Depot verwahrt, auf dem das neue Jüdische Gemeindezentrum Shalom Europa ruht. Für das Gemeindezentrum und sein Museum sind sie programmatisch das Fundament – und das „kulturelle Gedächtnis“.
Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte, Reihe IX, Band 58: „Die Grabsteine vom jüdischen Friedhof in Würzburg aus der Zeit vor dem Schwarzen Tod (1147 – 1346),
hrsg. v. Karlheinz Müller, Simon Schwarzfuchs und Avraham (Rami) Reiner, Wissenschaftlicher Kommissionsverlag Stegaurach, 2456 Seiten in drei Bänden, Subskriptionspreis bis 31. Januar 198 Euro, danach 240 Euro.