
"Ich weiß nicht was soll es bedeuten . . .“
Seit knapp anderthalb Stunden erzählt Alexander Schmuckler aus seinem Leben. Schwere Kost, fürchterliche Erlebnisse aus der Zeit vor 70, 75 Jahren, als der heute 90-Jährige die Gräuel des Krieges erlebte. Im Januar 1942, während der Blockade Leningrads durch Nazi-Deutschland, verhungerte der Vater in den Armen des 16-Jährigen. Die Jahre danach musste er kämpfen – ums eigene Überleben, um das der Sowjetunion. Jetzt steht er in seiner Wohnung im Würzburger Stadtteil Zellerau, wechselt plötzlich die Sprache von Russisch auf Deutsch – und zitiert deutsche Lyrik. Ausführlich und auswendig. Johann Wolfgang von Goethes „Über allen Gipfeln ist ruh . . .“ Und Heinrich Heine. „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten . . .“
Ja, was soll es bedeuten? Sieben Jahrzehnte nach Kriegsende schildert ein alter Mann die Leiden seiner Familie und seines Volkes im Zweiten Weltkrieg – und schwärmt vom heutigen Deutschland, von Würzburg. „Eine wunderschöne Stadt – wie das alte Petersburg“, „so freundliche, arbeitsame und hilfsbereite Menschen“. Seit fünf Jahren lebt Alexander Schmuckler in Mainfranken. Er ist Mitglied der jüdischen Gemeinde, die Familie seiner Tochter, die seit 2002 in Würzburg zu Hause ist, hat ihn nach dem Tod seiner Frau zu sich geholt.
Deutschland – Feindesland, das war einmal. So stolz der 90-Jährige dem Fotografen sein Jackett mit all den Orden präsentiert, mit denen ihn die Sowjetunion für den Einsatz im Großen Vaterländischen Krieg ausgezeichnet hat, so rücksichtsvoll äußert er sich über die einstigen Gegner. Allein 27 Millionen Sowjetbürgern hat der Krieg das Leben gekostet. Dennoch: Von Vorbehalten oder gar Hass keine Spur. Ein Problem mit den Deutschen habe er nie gehabt, versichert Alexander Schmuckler. Hitler sei der „Verbrecher“ gewesen, nicht die Soldaten. „Es war eben Krieg.“ An der Wand, neben vielen Familienbildern, hängen nebeneinander die russische und die deutsche Flagge. Er hoffe, so sagt er in Anspielung auf die gegenwärtigen Spannungen, dass das Verhältnis der beiden Staaten bald wieder besser werde. An Wladimir Putin liege es jedenfalls nicht, für die Krise um die Ukraine seien vielmehr „die Amerikaner“ verantwortlich. Aber das ist ein anderes Thema.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt Alexander Schmuckler erst im September 1945 in der Mandschurei, wo er gegen die Japaner eingesetzt war. Am 9. Mai 1945, nach russischer Zeitrechnung der Tag der deutschen Kapitulation, ist er in Prag. „Wir wurden mit Blumen und Tränen empfangen.“ Zuvor ist der junge Soldat auch an der Befreiung Österreichs vom Faschismus beteiligt. Bis zu 30 000 Tote kostet die Schlacht um Wien. „Als sie zu Ende war, haben wir am Friedhof Blumen auf die Gräber von Strauß, Beethoven und Schubert gelegt.“
Für Außenstehende ist so eine Geste auch heute noch nur schwer zu verstehen. Alexander Schmuckler ist damals gerade mal 20 Jahre alt und hat bereits unvorstellbares Leid erfahren. Weil die Mutter früh gestorben ist, wächst er bei den Großeltern und einer Tante in Newel, 500 Kilometer südlich von Leningrad (heute wieder St. Petersburg), auf. Als die Stadt am 8. Juli 1941 von den Deutschen bombardiert wird, macht sich der Jugendliche ganz allein auf nach Leningrad, wo der Vater und sein älterer Bruder leben. „Eine unbekannte Kraft“ habe ihn bewegt, erinnert er sich. Sein Glück. Wenig später treiben die Deutschen die Juden von Newel zusammen und erschießen sie. Seine Verwandten sieht Schmuckler nie wieder.
In Leningrad ist die Lage nicht besser. Am 8. September 1941 beginnt die fast 900-tägige Blockade der Stadt durch die deutsche Wehrmacht, die die Bevölkerung gezielt aushungert. „Es war die Hölle.“ Über eine Million Zivilisten sterben. Dem 90-Jährigen kommen die Tränen, die Stimme stockt, als er schildert, wie der Vater am 25. Januar 1942 völlig entkräftet in seinen Armen liegt und vor Hunger stirbt. „Er wurde nur 51 Jahre alt, ich war jetzt allein.“ Kurz darauf wird Schmuckler mit einem Kinder-Transport aus Leningrad evakuiert. „Ich war krank, hatte Malaria, aber ich war am Leben.“
Freiwillig meldet er sich als Soldat bei der Roten Armee, als Fernmelder wird er an die Front geschickt, kämpft im Kaukasus, in der Ukraine, danach in Rumänien, Österreich, der Tschechoslowakei, der Mandschurei. „Wie ich am Leben blieb, ist mir ein Rätsel“, sagt Schmuckler im Rückblick. „Wahrscheinlich lebe ich für meine Verwandten, denen es nicht gegeben war, ein hohes Alter zu erreichen.“ Nach dem Krieg arbeitet er 35 Jahre lang in der Gießerei einer großen Werft, dem Baltischen Schiffsbauwerk. Sein Stolz heute ist die Familie seiner Tochter. Die Enkelin lebt in Köln, der Enkel in St. Petersburg.
Ortswechsel.
Im Stadtteil Heuchelhof treffen wir Moura Kraminskaia. Auch sie ist Veteranin der Roten Armee und Jüdin. Im September wird sie 92 Jahre alt. Auf ihr Äußeres legt sie wert. Larissa Dubovska, die Dolmetscherin, die die Jüdische Gemeinde zur Verfügung gestellt hat, mag noch so drängen, Fotograf Thomas Obermeier muss seine Aufnahmen alle noch mal wiederholen. Die alte Dame, die seit 17 Jahren in Mainfranken lebt, hatte vergessen, frischen Lippenstift aufzutragen. Die Wohnung ist gemütlich, Familienbilder schmücken die Wände, dazwischen hängt ein Reh-Geweih.
Vom Kriegsende hört Kraminskaia im Lazarett in Polen, in Bielski-Biala. Bereits am 6. und 7. Mai laufen polnische Kinder fröhlich singend mit Fähnchen und Blumen durch die Stadt. Zwei Tage später ist der Sieg über Nazi-Deutschland offiziell. „Endlich war der Krieg vorbei.“ Kurz darauf wird das Lazarett in die Tschechoslowakei verlegt. „Warmherzig und fröhlich“ werden die sowjetischen Soldaten in Ostrawa begrüßt. „Im Park spielte Musik, wir wurden zum Tanzen aufgefordert.“ Es dauert noch bis August, bis Moura Kraminskaia nach Russland zurückkehrt und aus der Armee entlassen wird. Sie ist jetzt gerade mal 22 Jahre alt.
Im September 1923 wird sie in Novomirgorod in der Ukraine in einer jüdischen Familie geboren. Der Vater stirbt, als sie elf Jahre alt ist. Im Sommer 1941 beendet sie die Schule und fährt nach Leningrad, um dort zu studieren. Dort beginnt gerade die Blockade durch die Deutschen, vor den Stadttoren wird sie zurückgehalten. Die Züge zurück sind voll mit Evakuierten, zudem okkupiert die Wehrmacht auf ihrem Russlandfeldzug just in diesen Tagen ihre Heimatstadt. „Ein Albtraum.“ Schließlich entscheidet sich Moura Kraminskaia, einen Zug Richtung Moskau zu nehmen. Die Fahrt endet in Tambow, 400 Kilometer von der Hauptstadt entfernt. „Eine fremde Stadt, ich kannte keinen, hatte nichts zu essen und kein Geld.“ Die 91-Jährige erinnert sich gut. Eine Maschinenbau-Firma nimmt sie als Lehrling auf, später arbeitet sie als technische Zeichnerin im Konstruktionsbüro. Satt wird sie trotz harter Arbeit nur selten. Um zusätzliche Lebensmittelmarken zu bekommen, pflegt sie in der Freizeit Verwundete in einem Lazarett und spendet regelmäßig Blut.
1943 meldet sich die junge Frau schließlich freiwillig zur Armee. „Ich dachte, wenn ich an die Front gehe, komme ich zu meiner Mutter.“ Zweimal wird sie von der Ärztin bei der Eingangsuntersuchung abgelehnt. „Die hat gewusst, was die Front bedeutet“, ist sich Moura Kraminskaia im Rückblick sicher. Im dritten Anlauf gibt die Medizinerin nach, in Moskau wird die knapp 20-Jährige zur Funkerin und Fernmelderin in einem Panzerverband ausgebildet. Sie kämpft in mehreren Schlachten, ist an der Befreiung russischer und ukrainischer Städte beteiligt.
Die Hoffnung indes, Mutter und Schwester wiederzusehen, erfüllt sich nicht. „Die Deutschen haben die Juden von Novomirgorod in einem Ghetto zusammengetrieben, ermordet und verscharrt.“ Eine Tante und ein Cousin gehören zu den wenigen, die sich verstecken und fliehen können. Die 91-Jährige hält inne, mit der Erinnerung fließen die Tränen. „Furchtbar, dass so etwas passieren konnte. Ich bin so froh, dass diese Zeit vorüber ist.“
Heute lebt Moura Kraminskaia, ausgezeichnet mit Orden und Medaillen für den Einsatz in der Sowjetarmee, im Land der Feinde, im Land der Mörder ihrer Liebsten. Und nicht nur das. Mittlerweile hat sie neben der russischen auch die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Wie kann das funktionieren – angesichts dieser Geschichte? „Deutschland“, sagt die 91-Jährige, hat sich sehr, sehr verändert.“ 1997 habe sie eigentlich mit der Familie ihres Sohnes zu ihrem Cousin nach Kanada oder in die USA auswandern wollen. Man sei dann aber doch in Würzburg geblieben und habe es nicht bereut. „Mir gefällt es hier, die Deutschen sind zu uns wie zu den Einheimischen. Alle in der Familie haben Arbeit, ich bin sehr zufrieden.“ Für weitere Integration sorgt nicht zuletzt die jüdische Gemeinde mit ihren Freizeit- und Kulturangeboten.
Ob sie angesichts der Ukraine-Krise Angst vor neuer deutsch-russischer Konfrontation hat? Moura Kramiskaia: „Angela Merkel ist eine sehr gute und kluge Kanzlerin. Sie wird sich mit Präsident Putin verständigen.“
Info:
Zwei Dutzend Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Würzburg und Unterfranken, allesamt Bürger der ehemaligen Sowjetunion, haben ihre Erinnerungen an die Jahre des Zweiten Weltkriegs aufgeschrieben. Darunter sind Zeitzeugen, die den Holocaust in den Gettos und Vernichtungslagern der Deutschen überlebt haben genauso wie Veteranen der Roten Armee wie Moura Kraminskaia und Alexander Schmuckler. Das Buch „1941 - 1945. Unvergessliche Jahre. Erinnerungen von Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde Würzburg“ (ISBN 978-3-00-049451-2), erscheint in diesen Tagen. Es enthält zahlreiche historische Fotos und kostet 14,90 Euro. Die Jüdische Gemeinde stellt es am Sonntag, 10. Mai, um 17 Uhr im Gemeindezentrum Shalom Europa (Valentin-Becker-Straße 11) öffentlich vor.
Auf jeden Fall finde ich die Aussage von Alexander Schmuckler gut: "Hitler ist der Verbrecher gewesen (stellv. für die Nazis), nicht die Soldaten..."
Das kapieren aber viele Gutmenschen nicht - nicht jeder Deutsche (Soldat oder Zivilist) war ein böser Nazi, der es verdient hat zu sterben oder vergewaltigt zu werden......
Die deutschen Gutmenschen heute sind sogar dabei, einer neuen - noch viel grausameren
Macht den Weg zu ebnen mit ihrer Naivität ......
Holger Dieske