
Etwa 100 Zuschauer haben sich auf dem Sportgelände im unterfränkischen Bad Königshofen eingefunden, um das Fußballspiel des einheimischen TSV gegen den Turn- und Sportverein aus Gochsheim anzusehen. Auf dem Platz wird der Schiedsrichter von den üblichen Beleidigungen, von denen „Blinder“ noch zu den harmlosen gehört, beschallt. „Das Spiel heute war eines der ruhigeren“, wird der erst 17-jährige David Williams aus Würzburg, der diese Bezirksliga-Partie leitet, später zu Protokoll geben. Zum Glück, müsste man fast sagen, denn auch wenn körperliche Angriffe auf Schiedsrichter nach wie vor die Ausnahme darstellen, so kommt es gerade im Amateurfußball immer häufiger zu verbalen Entgleisungen – und leider auch zu schweren Verletzungen.
Verletzungen, die in Einzelfällen sogar bis zum Tode führen können. So verstarb im US-Bundesstaat Utah der Schiedsrichter Ricardo Portillo Anfang Mai dieses Jahres nach mehrtägigem Koma, nachdem er von einem 17-Jährigen brutal attackiert und schwer am Kopf verletzt worden war. Im niederländischen Almere wurde Richard Nieuwenhuizen am 2. Dezember 2012 während eines Jugendspiels, bei dem er als Linienrichter für die Mannschaft seines mitspielenden Sohnes aushalf, von drei Spielern des gegnerischen Teams angegriffen und krankenhausreif geprügelt.
Er erlag seinen inneren Verletzungen einen Tag später. Schwer verletzt, aber zumindest mit dem Leben kam der 17 Jahre alte Hector Giner Tarazon davon, der ein Spiel in der Nähe von Valencia leitete und so heftig von einem Spieler angegangen wurde, dass ihm anschließend die Milz entfernt werden musste. Auch in Deutschland finden sich ähnliche Beispiele: Im November 2012 wurde im württembergischen Esslingen der Schiedsrichter Levent Kabaoglu von einem Spieler per Kopfstoß niedergestreckt. Die Folge: eine Platzwunde und eine Gehirnerschütterung.
In Bad Königshofen läuft die 17. Spielminute, als Williams beim Stand von 1:1 erstmals einen motzenden Spieler ermahnt. „Ich will nichts hören!“, hält sich der Fachoberschüler kurz. Unter den Zuschauern schwankt die Bewertung des Unparteiischen zwischen „Der pfeift einen Mist zusammen!“ bis „Immer wenn es nicht läuft, soll der Schiedsrichter schuld sein. Das nervt mich!“ – „Ich selbst habe mich noch nie bedroht gefühlt“, versichert Williams, der einst durch seinen Onkel an die Pfeife gebracht wurde und mit 14 Jahren sein erstes Herrenspiel leitete. „Was die verbalen Beschimpfungen angeht: Das geht auf der einen Seite rein und auf der anderen wieder raus. Vor allem die Zwischenrufe von den Zuschauern bekomme ich überhaupt nicht mit. Da darf man vieles nicht so ernst nehmen.“ Tatsächlich scheint sich seine Einschätzung mit der der meisten Unparteiischen zu decken.
Bei einer Umfrage unter den Schiedsrichtern ermittelte der Bayerische Fußball-Verband (BFV), dass sich die Mehrheit nach wie vor sicher fühlt. „In der Saison 2011/2012 fanden rund 243 000 Amateurfußball-Spiele in Bayern statt. Die Sportgerichte haben 77 Spielabbrüche verhandelt. Im Schnitt ist es also bei etwa 0,032 Prozent aller Spiele zu einem Spielabbruch gekommen. Zudem behandelten die Sportgerichte (im Bezug auf die Schiedsrichter) unter anderem 66 Tätlichkeiten (0,027 Prozent der Spiele) und 2340 Beleidigungen (0,96 Prozent)“, so die Stellungnahme des BFV. Die Zahlen deuten darauf hin, dass Angriffe gegen den Schiedsrichter die Ausnahme darstellen. Der BFV räumt darin aber ein, dass „die Problematik einer gestiegenen Gewaltbereitschaft ganz generell in der Gesellschaft bekannt ist. Vorfälle werden vom Bayerischen Fußball-Verband nicht heruntergespielt oder kleingeredet, sondern ernst genommen und konsequent aufgearbeitet.“ Markant ist dabei, dass die Befragung ergab, dass sich zwar 90 Prozent der Schiedsrichter sicher fühlen, zugleich aber über 40 Prozent angeben, dass sie sich Sorgen machen. Neun Prozent haben sogar Angst vor Angriffen. Als größtes Problem wurde die Zunahme verbaler Anfeindungen durch Spieler, Trainer, Zuschauer oder Eltern genannt.
Einer, der die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte miterlebt hat, ist Ludwig Bauer. An einem verregneten Samstag leitet der 64-Jährige seine 2164. Partie – ein U17-Spiel in Erlabrunn bei Würzburg. Kurz vor dem Ende der Begegnung schickt er einen übermotivierten Gästespieler vom Feld. Die Situation bringt die Mutter des Sünders derart auf, dass sie nur mit Mühe davon abgehalten werden kann, auf den Rasen zu stürmen. „Es ist für Schiedsrichter definitiv schwerer geworden. Durch die Zeitlupen im Fernsehen wird jede Szene dreimal wiederholt und jede Entscheidung infrage gestellt“, hadert der ehemalige Bilanzbuchhalter. „Bei den Amateuren versucht es dann jeder nachzumachen. Vor allem junge Spieler lassen sich vom im Fernsehen gesehenen Verhalten beeinflussen.
Hinzu kommt bei Nachwuchsspielen, dass viele Eltern Hektik reinbringen.“ Tatsächlich führen manchmal übermotivierte Eltern erst dazu, dass Probleme entstehen, die es ohne sie gar nicht gäbe. Dabei sollte doch bei den Kindern der Spaß am Hobby und nicht der Leistungsdruck im Vordergrund stehen. Jedoch werden rassistische Äußerungen und Beleidigungen sowie Vorurteile den Kindern oft von ihren Eltern vermittelt – genauso wie in anderen Teilen der Gesellschaft auch.
Es scheint nahezuliegen, dass sich die Profis, die von vielen als Idole angehimmelt werden, gewissenhafter mit ihrer Vorbildfunktion auseinandersetzen sollten – ob sie diese Position nun einnehmen wollen oder nicht. Denn oft geben sie die besten Beispiele für schlechtes und moralisch bedenkliches Verhalten ab und kommen dank ihres Heldenstatus oft glimpflich davon. In die gleiche Kerbe schlug der Vorsitzende der deutschen Schiedsrichterkommission, Herbert Fandel, im Januar 2013, als er das Verhalten der Trainer und Spieler der Bundesliga gegenüber den Unparteiischen mit den Nachwuchsproblemen der Schiedsrichter-Zunft in Verbindung brachte: „Die Schiedsrichter gehen sehr schnell wieder von der Fahne, wenn sie merken, in welchem Umfeld sie ihre Arbeit verrichten müssen. Die Bundesliga ist eine Art Schaufenster.
Wer darin tätig ist, ob Schiedsrichter, Spieler oder Trainer, muss sich im Klaren sein, dass sein Verhalten Auswirkungen hat auf diejenigen, die in dieses Schaufenster hineinschauen“, sagte Fandel in einem „Kicker“-Interview. Andersrum standen aber gerade Fandel und der DFB am Pranger, nachdem sich der Bundesliga-Schiedsrichter Babak Rafati 2011 direkt vor einem Spiel in Köln das Leben zu nehmen versuchte und anschließend behauptete, dass Mobbing im Fußball zu seinen Depressionen geführt hätte.
Ein weiteres Problem, das gerade in Deutschland oft totgeschwiegen zu werden scheint, ist die Fremdenfeindlichkeit. Es läuft die 39. Spielminute in Bad Königshofen, als eine Dame um die 60 mit roten Lackschuhen und lila getöntem Haar einen Kommentar abgibt: „Der Schiedsrichter pfeift einen Mist zusammen. Vielleicht versteht der gar kein Deutsch!“ David Williams ist dunkelhäutig. „Oft ist es noch nicht vorgekommen, aber in der vergangenen Woche wurde ich mit einem abwertenden Tonfall als ,Schwarzer‘ beschimpft“, erinnert sich Williams.
Sehr viel deutlicher wird sein Kollege an der Linie, dessen Vater aus Puerto Rico kommt: „Rassismus ist Volkssport. In den oberen Ligen ist der BFV präsent, aber auf den Dörfern, wo das Meiste passiert, geschieht nichts“, ärgert sich der Linienrichter Michael Moritz. Etwas relativiert bewertet Williams die Situation selbst: „Egal ob Hautfarbe oder sonstige Eigenschaften – die Leute suchen immer eine Schwachstelle, um dem Schiedsrichter eins reinzudrücken.“ Genau diese schlechte Behandlung durch die Zuschauer und Akteure scheint der Hauptgrund für den akuten Nachwuchsmangel an Schiedsrichtern in manchen Gegenden zu sein – schließlich ist es nirgendwo anders derart gesellschaftlich akzeptiert, einen anderen Menschen verbal anzugreifen.
So sank beispielsweise die Zahl der Unparteiischen im Kreis Würzburg auf aktuell 410, es fehlen rund 123 Schiedsrichter, sagt Kreisschiedsrichterobmann Helmut Wittiger. Die Entwicklung ist negativ: Es sei davon auszugehen, dass jetzt im Herbst „D-Junioren und B-Klassenspiele nicht mehr mit amtlichen Schiedsrichtern besetzt werden können.“ Oft sind die Erwartungen und der Druck gegenüber den Neulingen zu groß. „Viele hören dann früh wieder auf. Das muss sich ändern, denn sonst wird es bald keine Schiedsrichter mehr geben“, befürchtet Bauer, der am 16. November 1963 sein erstes Spiel für 2,10 Mark Spesen leitete und 40 Jahre lang Schiedsrichtergruppen-Lehrwart in seinem Heimatort Gerolzhofen war. „Früher wurden die Entscheidungen eher akzeptiert, heute wird mehr gemeckert“, so Bauer, der sich selbst nach wie vor sicher fühlt: „Ich musste nur ein einziges Spiel abbrechen, als ein Zuschauer mit einer Bierflasche auf mich losging. Das ist schon lange her.“
Und wenn es keine Unparteiischen mehr gäbe? „Es gibt Überlegungen, auch einmal zu streiken“, geben die Linienrichterkollegen von Williams, die deutlich älter sind als der 17-Jährige, zu. „Ich selbst finde es aber nicht so schlimm. Im Endeffekt macht mir der Job zu viel Spaß“, hält der junge Schiedsrichter dagegen und bekommt dafür scherzhafte Zustimmung: „Was sollten wir auch tun, wenn wir am Wochenende nicht mehr pfeifen müssten? Die Zeit mit der Frau verbringen?“ Ganz so abwegig scheint auch Williams die Idee nicht zu finden: „Ich würde gerne mal sehen, was bei einem Spiel ohne Schiedsrichter los wäre. Das wäre für die Akteure sicherlich eine Schocktherapie und sie würden sehen, was ein Schiedsrichter so alles leistet.“
„Hau ihn um!“, rufen beim Spiel in Bad Königshofen zwei etwa zehnjährige Jungen in der 57. Spielminute unbedacht aus, während sich die Zuschauer am Spielfeldrand, einer mit einem Maßkrug in der Hand, gegenseitig mit Stammtischparolen überbieten. Oft spielt der Alkohol beim Fußball eine Rolle, ein Bierchen gehört für viele Zuschauer dazu. Es muss deshalb befürchtet werden, dass mit der Anzahl der Promille die Hemmschwelle dem Schiedsrichter gegenüber sinkt. Trotzdem steht bei Ludwig Bauer die Freude noch im Vordergrund: „Man macht es nicht nur für die zehn Euro Spesen, sondern mir macht der Job nach wie vor Spaß, und ich würde – wenn es die Gesundheit zulässt – auch gerne die 3000 Spiele noch vollmachen.“ Mit glänzenden Augen erzählt er noch von seinem Karrierehöhepunkt, als er 1995 ein Spiel in Kitzingen gegen den FC Bayern leiten durfte und ein Autogramm von Jürgen Klinsmann bekam.
„Schiedsrichter sein hat viele schöne Seiten“, stimmt ihm Williams zu. „Man stärkt das eigene Selbstbewusstsein, die Körpersprache und die Redegewandtheit, man bleibt sportlich, hat viel persönlichen Kontakt und lernt, sich durchzusetzen.“ Sowohl Williams als auch Bauer bestätigen also, dass es Schiedsrichtern nicht so schlecht geht, wie es manchmal dargestellt wird. „Statistisch ergibt sich keine signifikante Zunahme der Vorfälle der Anzahl nach, wohl aber in der Intensität der Tätlichkeiten. Dies deckt sich leider mit der generellen Situation in unserer Gesellschaft, wo wir ebenfalls zunehmend mehr Respektlosigkeit vor dem Mitmenschen und ein Mehr an Brutalität bei körperlichen Auseinandersetzungen zu beklagen haben. Fakt ist auch, dass weder vorbildliche Präventivmaßnahmen noch Sanktionen einen hundertprozentigen Schutz vor Gewaltvorfällen bieten können.
Die gestiegene Gewaltbereitschaft ist kein exklusives Problem des Fußballs, sondern ein gesamtgesellschaftliches Problem und wird deswegen auch nicht durch spezifische Lösungen alleine in den Griff zu bekommen sein“, bilanziert der BFV. Schiedsrichter machen Fehler, manche sind arrogant oder überheblich, einigen mangelt es am Gefühl für den Umgang mit den Spielern oder schlicht an Erfahrung und Ruhe – und dennoch tun sie in der Regel ihr Bestes und sind für das Spiel unverzichtbar. Der Lohn ist selten Wertschätzung. Sollte es irgendwann nicht mehr genügend Schiedsrichter geben, könnte dies an vermeidbaren, hausgemachten Problemen liegen.
Bad Königshofen verlor übrigens sein Heimspiel gegen Gochsheim mit 1:2; Williams lieferte eine solide, wenn auch von manchen als kleinlich bezeichnete Partie ab. Das 2164. Spiel von Bauer endete mit einem 2:1-Heimsieg. Gemein hatten beide, dass die Schiedsrichter das bekamen, was meist üblich ist: wenig Lob – aber viel Kritik.
Wenn die Verhältnisse in Bad KÖN bei einem Punktspiel ausschlaggebend wären, so dürfte es nicht diese Schiedsrichterproblematik geben. Es geht sehr harmlos zu. Bislang hat jeder (!) Schiedsrichter nach dem Spiel mit Spielern, Fans und Betreuern beim Essen und Trinken im Sportheim zusammengesessen. Auch David Williams